Der folgende Text stammt von Jacob Julius David. Laut Überschrift ist es ein Märchen, aber selbst für ein Märchen kommt der Text sehr versponnen daher – eine ganz eigenartige, ferne Stimmung, die hier vermittelt wird … Ein ziemlicher Unterschied zu Fontanes Text aus dem letzten Beitrag, und spannend zu sehen, wie sich der Blankvers schlägt angesichts dieser Aufgabe!
Märchen
Alltäglich aber, so um Mittagszeit,
Stand erst die Sonne hoch und wirkte heftig,
Durchzog sie also die verfemte Stadt.
Sie selbst war sich Geleit; und weiße Hüllen
Umflossen ihre makellose Schönheit,
Ihr Kleid war dünn und ihrer Glieder Pracht
Schien ganz hindurch. So dringt der Wolken Ziehen
Des Vollmonds Leuchten durch.
Und ihre Füße,
Ganz bar und schimmernd, edles Elfenbein;
Sie setzte sich bedächtig, Schritt vor Schritt,
In feierlichem Rhythmus trat sie her:
Und ihr entgegen drängte sich das Moos
Von alten Stämmen, überzog den Boden
Mit allergrünstem, schmeichelnd weichem Teppich;
In ihren Stapfen tat das blaue Veilchen
Die Kinderaugen auf und staunt ihr nach,
Und weißer Anemonen zarte Seelchen
Erzitterten im Wind.
Und grauen Mauern,
Verwitternd und verfallen, kam sie so
Ganz ohne Hast vorüber, und der Efeu
Klomm dran empor; er schwang in dreistem Sprung
Sich zu der Zinnen Kränzen auf und hüllte
Die Spuren des Verfalls. Und alles wehte,
Die Eppichgirandolen, junges Laub,
Und schien beseelt und in Erwartung atmend.
Die Dächer aber schmückte grüne Hauswurz,
Und gelbe Sternchen flammten.
Und zur Kirche
Trat sie alsdann. Ihr mächtiges Portal
War längst vermorscht. Die Pracht der reichen Fenster
Gebrochen längst. Nur Trümmerchen und Scherben
Des bunten Glases lagen noch im Moos,
Und schien die Sonne drauf, so glommen sie
Gleich kostbaren Juwelen auf.
Sie säumte
Ein Weilchen schamhaft an der Schwelle, schwang
Ihr Kleid von sich. Das hob sich sacht vom Boden,
Und immer höher stieg es, auf zum Himmel,
Unsäglich zart, zerflatternd ganz im Wehen,
Und weiße Streifchen zogen sich durchs Blau
Und milderten der Sonne Glanz, der fast
Zu flammend schien. Denn nirgends war noch Schatten
Und allenthalben Licht.
Sie aber trat
Vor Schönheit leuchtend in das Münster ein.
Und Helle floss von ihr und zog um sie.
Sie staunte zur Empor‘. Ein Birkenstämmchen
Hob sich darauf, und wo die Orgel einstens
Gestanden war, da hatten schlanke Schwalben
Ihr Nest gebaut. Sie breitete die Hände
Wie segnend über diese holde Wildnis,
Und löst ihr Haar. Ein goldner Mantel, hüllend,
Und prächtig leuchtend, gleich geschmolznem Kupfer,
Umfloss es sie. So stieg sie auf zur Kanzel.
Durch die geborstne Decke floss das Licht
In breiten Wellen über sie. Sie ließ
Die roten Strähne durch die Finger gleiten
Und schwieg und sah.
Um sie erwachte
Der Wildnis sonderbar verträumtes Leben;
Ein Eidechs raschelte die Wölbung nieder,
Und guckt‘ nach ihr mit blinzend klugem Auge,
Und züngelte alsdann. Es kam ein Reh
Mit feuchten Blicken; flinke Hasen aber,
Sie stellten sich in Reihen, spitz die Ohren,
Und machten Männerchen. Ein bunter Buchfink,
Der sich zum Neste trug ein Zweiglein, ließ es
Vor Staunen fallen, schmettert ein Gesätzchen.
Und augenblicks erhoben tausend Stimmchen
Ein jauchzend Lied. Ein Vogelvolk flog auf,
Und ein unendlich Jubeln war.
Ein Bann,
Der nicht zu brechen, schlang den Zaubergürtel
Um die verfemte Stadt. Kein Menschenauge
Sah ihre Wunder. Nur zwei irre Kinder,
Verloren ganz im Walde, sahen ferne
Dies Schwirren ungezählter Flügelein,
Vernahmen dieses laute Tirilieren,
Und sahn des Goldhaars Glanz, und ihnen däuchte,
Es stiege die vergessne Stadt herauf, es wölbten
In kühnem Schwung sich die verfallnen Bogen
Des eingestürzten Domes; als erklängen
In feierlicher Andacht jene Glocken,
Die längst ein Brand zerschmolz; als wär die Sonne
Herabgefallen selber auf die Erde
Und seng‘ und segne sie. Die Herzchen pochend,
So standen sie ein Weilchen. Dann in Angst:
„Es flirrt und blendet so! Leicht wird man blind?“
Und ihre Händchen fassend ganz benommen,
Und aufgeregt vor tausend dunklen Rätseln,
Und doch begnadigt für ihr ganzes Leben,
So liefen sie den Eltern zu …