Erzählverse: Der Blankvers (14)

Der folgende Text stammt von Jacob Julius David. Laut Überschrift ist es ein Märchen, aber selbst für ein Märchen kommt der Text sehr versponnen daher – eine ganz eigenartige, ferne Stimmung, die hier vermittelt wird … Ein ziemlicher Unterschied zu Fontanes Text aus dem letzten Beitrag, und spannend zu sehen, wie sich der Blankvers schlägt angesichts dieser Aufgabe!

 

Märchen

Alltäglich aber, so um Mittagszeit,
Stand erst die Sonne hoch und wirkte heftig,
Durchzog sie also die verfemte Stadt.
Sie selbst war sich Geleit; und weiße Hüllen
Umflossen ihre makellose Schönheit,
Ihr Kleid war dünn und ihrer Glieder Pracht
Schien ganz hindurch. So dringt der Wolken Ziehen
Des Vollmonds Leuchten durch.
Und ihre Füße,
Ganz bar und schimmernd, edles Elfenbein;
Sie setzte sich bedächtig, Schritt vor Schritt,
In feierlichem Rhythmus trat sie her:
Und ihr entgegen drängte sich das Moos
Von alten Stämmen, überzog den Boden
Mit allergrünstem, schmeichelnd weichem Teppich;
In ihren Stapfen tat das blaue Veilchen
Die Kinderaugen auf und staunt ihr nach,
Und weißer Anemonen zarte Seelchen
Erzitterten im Wind.
Und grauen Mauern,
Verwitternd und verfallen, kam sie so
Ganz ohne Hast vorüber, und der Efeu
Klomm dran empor; er schwang in dreistem Sprung
Sich zu der Zinnen Kränzen auf und hüllte
Die Spuren des Verfalls. Und alles wehte,
Die Eppichgirandolen, junges Laub,
Und schien beseelt und in Erwartung atmend.
Die Dächer aber schmückte grüne Hauswurz,
Und gelbe Sternchen flammten.
Und zur Kirche
Trat sie alsdann. Ihr mächtiges Portal
War längst vermorscht. Die Pracht der reichen Fenster
Gebrochen längst. Nur Trümmerchen und Scherben
Des bunten Glases lagen noch im Moos,
Und schien die Sonne drauf, so glommen sie
Gleich kostbaren Juwelen auf.
Sie säumte
Ein Weilchen schamhaft an der Schwelle, schwang
Ihr Kleid von sich. Das hob sich sacht vom Boden,
Und immer höher stieg es, auf zum Himmel,
Unsäglich zart, zerflatternd ganz im Wehen,
Und weiße Streifchen zogen sich durchs Blau
Und milderten der Sonne Glanz, der fast
Zu flammend schien. Denn nirgends war noch Schatten
Und allenthalben Licht.
Sie aber trat
Vor Schönheit leuchtend in das Münster ein.
Und Helle floss von ihr und zog um sie.
Sie staunte zur Empor‘. Ein Birkenstämmchen
Hob sich darauf, und wo die Orgel einstens
Gestanden war, da hatten schlanke Schwalben
Ihr Nest gebaut. Sie breitete die Hände
Wie segnend über diese holde Wildnis,
Und löst ihr Haar. Ein goldner Mantel, hüllend,
Und prächtig leuchtend, gleich geschmolznem Kupfer,
Umfloss es sie. So stieg sie auf zur Kanzel.
Durch die geborstne Decke floss das Licht
In breiten Wellen über sie. Sie ließ
Die roten Strähne durch die Finger gleiten
Und schwieg und sah.
Um sie erwachte
Der Wildnis sonderbar verträumtes Leben;
Ein Eidechs raschelte die Wölbung nieder,
Und guckt‘ nach ihr mit blinzend klugem Auge,
Und züngelte alsdann. Es kam ein Reh
Mit feuchten Blicken; flinke Hasen aber,
Sie stellten sich in Reihen, spitz die Ohren,
Und machten Männerchen. Ein bunter Buchfink,
Der sich zum Neste trug ein Zweiglein, ließ es
Vor Staunen fallen, schmettert ein Gesätzchen.
Und augenblicks erhoben tausend Stimmchen
Ein jauchzend Lied. Ein Vogelvolk flog auf,
Und ein unendlich Jubeln war.
Ein Bann,
Der nicht zu brechen, schlang den Zaubergürtel
Um die verfemte Stadt. Kein Menschenauge
Sah ihre Wunder. Nur zwei irre Kinder,
Verloren ganz im Walde, sahen ferne
Dies Schwirren ungezählter Flügelein,
Vernahmen dieses laute Tirilieren,
Und sahn des Goldhaars Glanz, und ihnen däuchte,
Es stiege die vergessne Stadt herauf, es wölbten
In kühnem Schwung sich die verfallnen Bogen
Des eingestürzten Domes; als erklängen
In feierlicher Andacht jene Glocken,
Die längst ein Brand zerschmolz; als wär die Sonne
Herabgefallen selber auf die Erde
Und seng‘ und segne sie. Die Herzchen pochend,
So standen sie ein Weilchen. Dann in Angst:
„Es flirrt und blendet so! Leicht wird man blind?“
Und ihre Händchen fassend ganz benommen,
Und aufgeregt vor tausend dunklen Rätseln,
Und doch begnadigt für ihr ganzes Leben,
So liefen sie den Eltern zu …

Erzählformen: Das Distichon (1)

Das Distichon, genauer: das elegische Distichon ist ein seit 2700 Jahren bekanntes Verspaar, das schon in der Antike weitverbreitet war. In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gelangte die deutsche Entsprechung des antiken Distichons in die deutsche Dichtung und wurde von Schiller, Goethe und Hölderlin in einigen ihrer besten Werke genutzt; spätere Meister der Form waren unter anderem Mörike und Hebbel. Aber auch zahllose andere gute Dichter haben das Distichon benutzt; und noch viel mehr weniger gute.

Gereihte Verspaare dieser Art kamen in antiker Tradition in der Elegie, der Idylle und dem Lehrgedicht zum Einsatz; das einzelne Distichon wurde vor allem als Epigramm genutzt. In dieser Form findet es sich im „Verserzähler“ aber nur unter meinen eigenen Texten; hier sollen dagegen kürzere Erzähltexte vorgestellt werden, die in Distichen geschrieben wurden!

Formal gesehen besteht ein deutsches Distichon aus einem Hexameter (erster Vers) und einem Pentameter (zweiter Vers). Das Schema der betonten und unbetonten Silben sieht so aus:

X x (x) / X x (x) / X x (x) / X x (x) / X x x / X x
X x (x) / X x (x) / X || X x x / X x x / X

Dabei ist: X = betonte Silbe; x = unbetonte Silbe; (x) = Diese Silbe kann, muss aber nicht stehen; || = Vers-Einschnitt.

Beide Verse haben ihre Eigenarten und werden daher in folgenden einzeln vorgestellt; eine kurze Betrachtung über ihr Zusammenwirken im Distichon schließt sich an.

Der Hexameter

Der Hexameter ist schon durch die vielen möglichen Anordnungen von Daktylen (X x x ) und Trochäen (X x) in den ersten vier Versfüßen ein rhythmisch sehr vielgestaltiger Vers. Dazu kommen noch die verschiedenen Zäsuren! Trotzdem bleibt der Vers immer als Hexameter erkennbar, wozu auch die typische Schlussformel „X x x / X x“ beiträgt.

Eine Zäsur (meint: einen Einschnitt in etwa in der Mitte des Verses) ist nötig, um den vergleichsweise langen Vers zu unterteilen und ihm so eine feste Gestalt zu geben. Andererseits sollte der Einschnitt aber auch nicht zu tief gehen, da sonst die Gefahr besteht, dass der Vers in zwei Teilverse zerfällt. Es gibt im wesentlichen vier Zäsuren. Alle liegen im entsprechenden Versfuß:

X x (x) / X x (x) / X || x || (x) / X || x || (x) / X x x / X x

Dazu kommt noch die seltenere „bukolische Diärese“, also der Einschnitt nach dem vierten Versfuß. Eigentlich sollte man den Einschnitt nach einem Versfuß vermeiden, weil so Metrum und Satzstruktur zusammenfallen und leicht ein „klappernder“ Eindruck entsteht; Der Schnitt nach dem vierten Fuß hat aber Vorteile, die dieses kompensieren: zum einen ermöglicht die sehr späte Zäsur eine Nebenzäsur im zweiten Versfuß, wodurch der Vers eher eine Dreigliederung erfährt, was zu Vielfalt beiträgt; zum anderen kann so der typische Hexameterschluss „X x x / X x“ besser hervorgehoben werden. Der Einschnitt nach dem dritten Fuß dagegen ist unbedingt zu vermeiden!

Nebenzäsuren sind häufig. Insgesamt ist der Hexameter ein daktylischer Vers, daher sollte man von der theoretisch vorhandenen Möglichkeit, die ersten vier Füße komplett mit Trochäen zu füllen, nur sehr vorsichtig Gebrauch machen.

Soviel in aller Kürze zum Hexameter. In der Kategorie „Der Hexameter“ gibt es aber weitere Angaben zu diesem Vers, und vor allem viele Beispiele!

Der Pentameter

Der Pentameter kommt nur als Begleiter des Hexameters im Distichon vor. Seine rhythmische Vielfalt ist durch den festen Einschnitt in der Versmitte, wo zwei betonte Silben unmittelbar aufeinander folgen, und die festgelegte zweite Vershälfte nicht so groß wie die des Hexameters. Auch hier gilt: Selten wird der Vers mit zwei Trochäen begonnen, da sonst der daktylische Grundrhythmus verloren geht.

Das Distichon

Im Distichon wird der fließende, vielfältig variierbare Rhythmus des Hexameters im Pentameter gebremst und abgeschlossen. Dadurch entsteht ein wohlbestimmter, klar erkenn- und erhörbarer Raum, der sich sehr gut für Epigramme eignet, aber auch in Erzähltexten genutzt werden kann und dort dann weniger eilend und voranstürmend wirkt als ein rein in Hexametern geschriebener Text.

Als Abschluss dieses ersten Beitrags soll aber doch ein einzelnes Distichon genügen, das dafür gründlich „zerlegt“ wird! Es stammt von Friedrich Hebbel:

 

Dichterlos

Lass dich tadeln fürs Gute, und lass dich loben fürs Schlechte;
Fällt dir eines zu schwer, schlage die Leier entzwei.

 

Im Silbenbild sieht das so aus:

X x / X x x / X x || x / X x / X x x / X x
X x / X x x / X || X x x / X x x / X

Lass dich / tadeln fürs / Gute, || und / lass dich / loben fürs / Schlechte;
Fällt dir / eines zu / schwer, || schlage die / Leier ent- / zwei.

– Mit klar erkennbaren Einschnitten in der Mitte der Verse, und mit einer eindeutigen Aufteilung in betonte und unbetonte Silben?! Aber auch inhaltlich sicher bedenkenswert für alle Schreibenden!

Neujahr

Haucht auf das alte Jahr und fährt mit dem Ärmel darüber,
Hält es ins Licht und lacht: Gott, denn es glänzt ihm wie neu.

Das Königreich von Sede (14)

Der letzte Zecher
Ist fort; der Wirt schließt zu,
Putzt Tische, spült die Becher
Und geht zur Ruh,
Bläst seine Kerze aus …
Kaum schläft er, schleicht
Ein kleines Mädchen um das Haus,
In Grau gekleidet;
Entscheidet
Für einen Weg sich und erreicht
Den Hof; und bleibt dort stehen,
Sich umzusehen.
Es weiß, was keiner auch nur ahnt –
Dass hinter Fässern,
Die auszubessern
Der Wirt schon ewig plant,
Im dichten Gras und unter Latten
Und Dauben, tief im Schatten:
Ein Steinfrosch steht.
Zu diesem geht
Das Kind und räumt,
Ganz leis, den Wirt, der selig träumt,
Nicht zu erschrecken
Und aufzuwecken,
Den Plunder fort;
Es spricht das stumme Wort,
Den Frosch zu grüßen,
Und legt zu seinen Füßen
Die Quappengabe nieder,
Verharrt noch; packt dann alles wieder
Genau so, wie es lag.
Schon kräht der erste Hahn,
Die Sonne steigt auf ihrer Bahn,
Es naht der Tag –
Ins Grau des Umhangs eingehüllt
Verlässt das Kind den Wunderort
Und eilt, von Stolz erfüllt,
Durch stille Gassen fort.