Das Ein-Vers-Gedicht (21)

Ein drittes der hexametrischen „Plattdeutschen Sprichwörter“ von Friedrich Rückert! Danach sollen wieder andere Verfasser zum Zuge kommen.

 

Heißa, bin ich gestorben, so pisst mir der Hund an den Grabstein.

 

Der Hexameter ist ein Vers von eher, nun ja: würdevoller Haltung. Die wird hier durch den derben Inhalt unterlaufen; aber Rückerts Einzelvers bewegt sich trotzdem kräftig und ausdrucksstark, und gerade das „x X / x x X / x x X X“ der zweiten Vershälfte ist ein Auf- und Vorwärtsstreben, dem ich immer wieder gern nachhöre.

Ein Vergleich

Wer Homer nicht kennt und Geschichten erzählt, hat es schwer: Ich vergleich ihn dem Angler,
Der vom Fisch nicht weiß, wie er aussieht, nicht, wo er lebt, was er tut, wie er denkt, nicht;
Still steht er am Ufer, geduldigen Sinns, lang steht er – und immer vergebens.

Der prosaische Rhythmus

Ein kurzer Abstecher zur Prosa. Geschrieben hat die folgenden Sätze Jean Paul, zu finden sind sie in seiner „Vorschule der Ästhetik“:

Freilich gibt es einen prosaischen Rhythmus; aber für jedes Buch und jeden Autor einen andern und ungesuchten; denn wie die Begeisterung des Dichters von selber melodisch wird, so wird die Begeisterung großer Menschen, von einem Luther an bis zu Lessing und Herder herüber, unwillkürlich rhythmisch. Ist nur einmal ein lebendiger und kein gefrorner Gedankenstrom da, so wird er schon rauschen; ist nur einmal Fülle und Sturm zugleich in einer Seele: so wird er schon brausen, wenn er durch den Wald zieht, oder säuseln, wenn er sich durch Blumen spielt.

Schön gesagt! Ich lese ja nicht mehr viel Prosa; aber bei Jean Paul kann man immer die Nase reinstecken … Und viel von dem, was er in der „Vorschule“ sagt, ist auch auf den Vers anwendbar:

Je mehr Kraft ein Werk hat, desto mehr Klang verträgts; der Widerhall gehört in große weite Gebäude, nicht in Stuben.

Jawoll! So isses!

Das Königreich von Sede (77)

Sessellehne war die Zofe
Sofarosas, der Prinzessin,
Die sie selten sah; es liebte
In der Nacht, auf stillen Wegen
Ihre Herrin zu durchwandern
Sedes Wälder, und die Hügel,
Und die grasreich-weite Steppe …

Lene (wie sie alle nannten)
Saß des Tags im Schloss und flickte,
Was die scheue Königstochter
Dagelassen, als sie nächtens
(Alles schlief, es schlief auch Lene)
Innehielt auf ihren Wegen
Kurze Zeit, und an den Wachen
Sich vorbeistahl, ihre Räume
Aufzusuchen, abzulegen,
Was zerrissen, auszutauschen,
Was zerbrochen, und davonging,
Neubekleidet in die Nacht ging.

Lene flickte das Zerriss’ne,
Das Zerbroch’ne aber warf sie
In den Graben, und die Frösche
Quakten, halb erstaunt, halb mürrisch.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (11)

Als Paul Heyse „Die Brüder“ schrieb, war er knapp über Zwanzig. Sein Vers hatte aber trotzdem schon eine große Selbstverständlichkeit, wie ein kurzer Ausschnitt zeigt – der Sohn des Königs ist mit seiner Braut heimgekehrt, und eben soll die Vermählung stattfinden;

 

Da erklingt ein Schritt, die Pforten schüttern,
Und der König kommt hereingeschritten,
Fest und langsam, Purpur auf den Wangen,
Hat den Blick so herrisch aufgeschlagen,
Dass im Saal sich alle Wimpern senken.
Und sie stehn und harren, dass er rede.
Doch er schweigt, in sein Gemüt verloren,
Und den Sohn mit keinem Worte grüßend
Prüft er mit dem Falkenblick die Taube.
Lange sinnt er; dann zum Tisch gewendet
Schenkt er bis zum Rande voll den Becher,
Draus der Bräutigam dem Mädchen vortrinkt,
Und – er selber setzt ihn an die Lippen,
Und er selber trinkt, und nach dem Trunke
Wie ein Sieger in die Runde blickend
Reicht er den Pokal der Braut des Sohnes.

 

Meint: Der Vater spannt dem Sohn die Braut aus. Warum er solches tut, kann man in der Verserzählung selbst nachlesen; hier geht es nur um die sichere Art, mit der Heyse den trochäischen Fünfheber handhabt – der bewegt sich gut, und er hat Fülle und Kraft!

Später hat Heyse noch eine inhaltlich verwandte Geschichte geschrieben „König und Prieser“; auch die nutzt den trochäischen Fünfheber, und auch die ist lesenswert.

Erzählverse: Der Blankvers (72)

In Ferdinand von Saars „Die Kuh“ durchwandert das „Ich“ einen sonnigen Herbstmorgen, als die Idylle jäh unterbrochen wird:

 

Da hört‘ ich lauten Aufschrei – und gewahrte,
Wie eine Kuh aus nied’rem Koben brach –
Und hinterdrein, halbwüchsig kaum, ein Mädchen,
Das wie in Todesangst den Schweif des Tiers
Umklammert hielt, um es am Flieh’n zu hindern.
Zu schwach doch war der Ärmsten Kraft; geschleift
Auf steilem Abhang, ließ sie endlich los,
Dieweil Frau Blässe rasch mit tollen Sätzen
Feldeinwärts sprang. (…)

 

Das Mädchen wird vom eigentlichen Wächter aufs heftigste beschimpft; der Schluss der Tirade:

 

„Nun auf! Nun lauf und bring‘ sie mir zurück –
Wenn dir dein Leben lieb ist, Gottverfluchte!“
So schrie er wild und mit geballten Fäusten,
Nach Odem ringend, in ohnmächt’ger Wut.

 

Entzückend. Das „Ich“ ist ratlos, wird dann aber der Notwendigkeit einer Entscheidung enthoben!

 

Ich selber – ratlos stand ich; wusste nicht,
Sollt‘ ich den Mann begüt’gen, sollt‘ ich rasch
Statt jener armen Kleinen nach der Kuh
In Lauf mich setzen – als ich plötzlich sah,
Wie diese, gleichsam sich besinnend, anhielt,
Dann, leichthin tänzelnd, wie nur Kühe tänzeln,
Den Schweif gehoben, sich zur Heimkehr wandte
Und munt’ren Brüllens nach dem Koben lief,
Den Jammer endend, den sie wachgerufen …

 

Ich bin nicht sicher, ob das ein gutes Gedicht ist; aber die letzten fünf Verse haben mich doch sehr für den Text eingenommen! Da bewegt sich die Sprache so geschickt und anmutig, und die Vorstellung ist so klar vermittelt, dass man einfach ganz und gar aufgeht im Geschilderten!

(Wer noch auf ein anderes Beispiel für „die Kuh in der Verserzählung“ neugierig ist, kann bei Hexameter (33) vorbeischauen!)

Die Bewegungsschule (51)

In (26) wurde der sogenannte „Hinkiambus“ vorgestellt …

ta TAM / ta TAM / ta TAM / ta TAM / ta TAM / TAM ta

… mit dem ihn kennzeichnenden doppelten „TAM“ am Versende! Ein kurzer Text in diesem Maß, geschrieben von Friedrich Rückert, liest sich so:

 

Ein Liebchen hatt ich, das auf einem Aug‘ schielte;
Weil sie mir schön schien, schien ihr Schielen auch Schönheit.
Eins hatt ich, das beim Sprechen mit der Zung anstieß,
Mir war’s kein Anstoß, stieß sie an und sprach: „Liebster!“
Jetzt hab ich eines, das auf einem Fuß hinket –
„Ja freilich“, sprech ich, „hinkt sie, doch sie hinkt zierlich.“

 

An den wurde ich erinnert, weil ich auf Youtube eine Vertonung davon gehört habe – von Carl Loewe, gesungen von Hans Hotter: Hinkende Iamben

Einfach einmal reinhören und darauf achten, wie Tonsetzer und Vortragender mit diesem Zusammenstoß zweier schwerer Silben umgegangen sind!