Erzählformen: Die Brunnenstrophe (15)

Die in (12) und (13) vorgestellte „doppelte Brunnenstrophe“ ist eigentlich die ältere Form, und die „einfache Brunnenstrophe“ die jüngere; trotzdem hat man fast auschließlich den Vierzeiler im Ohr, während der Achtzeieler heute fremd wirkt. Das liegt, auch und besonders, an der Romantik, die viele großartige, wirkungsmächtige Gedichte in volkstümlichen, kreuzgereimten Vierzeiler-Strophen geschrieben hat und diese Art Strophe als „Ohren-Maß“ eingeführt hat: Längere Strophen, wie sie vor 1800 beliebt und häufig waren, wirken heute fremd.

Die „doppelte Brunnenstrophe“ hat Robert Eduard Prutz 1841 benutzt, um seinen Band „Gedichte“ zu eröffnen mit „Den Dichtern“ – die zweite Strophe:

 

Wohl hört man allerorten
Von Unmut, Zwist und Streit,
Sie schmäh’n mit herben Worten
Auf diese schlimme Zeit:
Dass aus der Welt entschwunden
Die alte Märchenpracht,
Und keiner drin gefunden,
Was er als Kind gedacht.

 

Vor allem angesichts der letzten vier Zeilen ist die Wahl der Strophenform hier vielleicht ganz passend?! Als dieser Form eher fremder Inhalt wirkt, zumindest auf mich, dann die deutlich rhetorische Aufforderung der dritten Strophe:

 

Und sind so schlimm die Zeiten
Und ward die Zeit so schlecht:
Was mehr? So musst du streiten
Und kämpfen für das Recht.
Da gilt’s nicht Seufzer singen,
Schwermüt’ge Litanei’n,
Da gilt es fröhlich Ringen,
Gilt Mann mit Männern sein!

 

In der letzten Strophe schließlich kommen beide Stimmen zu Wort, die volkstümliche wie die gedanklich-aufrüttelnde, fein auf die beiden Strophenhälften verteilt:

 

Noch leuchten Gottes Sterne
Wohl über Land und Flut,
Noch gibt es nah und ferne
Viel Herzen fromm und gut:
Sie sollen nicht verderben!
Zu Taten, kühn und groß,
Soll dein Gesang sie werben:
Sieh, das ist Dichterlos!

 

Was er hier beschreibt, hat Prutz in seinem eigenen Dichten jedenfalls umgesetzt … Mit welchem Erfolg – nun ja; zu seiner Zeit war er jedenfalls ein bekannter und vielgelesener Mann!

Ohne Titel

„Gespenster? Gibt es nicht! Es gab sie, früher,
Als sich die Menschen noch begraben ließen,
Am Stück, im Sarg; doch heute wird verbrannt,
Und aus der Urne, schlägt es Mitternacht,
Hebt sich kein Geist ins Licht des Mondes, nein:
Nur Geisterasche, unsichtbar und stumm.“

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (56)

„Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein, aufgeschrieben von Ludwig Achim von Arnim“, oder kurz: „Gräfin Dolores“ ist ein Roman, den man heute nicht mehr unbedingt kennen muss, der aber eine große Menge von eigestreuten Verspassagen enthält und von daher zumindest einem Verserzähler durchaus einen Blick wert ist!

Die dabei verwendeten Versarten sind zahlreich; die recht umfangreiche „Geschichte des Mohrenjungen“ zum Beispiel ist in ungereimten trochäischen Vierhebern geschrieben. Ein Teil dieser Geschichte ist ein Brief, „Die Äbtissin an den Herzog“:

 

Bruder, Du hast mich verschlossen
In dem alten Fräuleinstifte,
Um die Ausstattung zu sparen,
Samt und Hafer, und das Weißbrot,
Von den Ständen mir geschenket.
Sieh, zur Strafe von dem Himmel
Bist Du ohne Kind geblieben,
Das er mir zur Straf‘ bescheret;
Doch es stammt von einem Helden,
Also wird’s ein Held auch werden,
Darum seid geneigt dem Rate,
Den ich Euch in Demut gebe.
Euer Reich fällt heim den Fremden,
Und mein armes Kind muss sterben,
Und ich geh‘ in Schand‘ verloren,
Wenn Ihr diesem Rat nicht folget,
Nicht mein Kind, in Schuld empfangen,
Mild zu Eurem Kind annehmet.
Eure Frau, die Herzoginne,
Muss sich stellen guter Hoffnung,
Und ich komme dann im Schlosse
Heimlich nieder: Gott wird helfen!
Und mein Kindlein wird getragen
Heimlich zu der Herzoginne,
Als ob sie es hätt‘ geboren.
Denkt darüber nach in Liebe,
Und dann seid Ihr überzeuget,
Fühlet recht den Willen Gottes,
Wie er Böses gut hier mache,
So verzeihet der Äbtissin.

 

– Das fasst die zuvorige Handlung in etwa zusammen; die Äbtissin hat sich eines Nachts jemandem im Garten hingegeben, von dem sie annahm, es wäre ein ihr seit Jugendtagen vertrauter Offizier gewesen. Der war es aber nicht, wie sich zeigt – der vorgeschlagene Plan wird umgesetzt, und:

 

Endlich seht das große Zeichen
In den tiefen nächt’gen Stunden,
Und der Marschall mit dem Schnupftuch
Winket zweimal aus dem Fenster,
Von den Fackeln wohlbeleuchtet.
Also ist ein Prinz geboren,
Und die Kanoniere schießen,
Dass die Scheiben aus den Fenstern,
Menschen aus den Türen fliegen;
Und es gibt ein frohes Jauchzen,
Dass die Frösche in dem Teiche
Nicht alleine nächtlich singen.
Als das Wappen eingebrennet
Unserm Prinzen an den Hüften,
Dass man ihn nicht mög‘ vertauschen,
Merkt man eine eigne Farbe
In der Haut, die schwer zu nennen;
Doch das ist gar oft an Kindern,
Die erst neu zur Welt gekommen,
Eins ist grün, das andre bläulich,
Das vergeht in wenig Wochen.
Als die Glückwünschung empfangen,
Und die Taufe ist verrichtet,
Und noch vierzehn Tage später
Dauert unsers Herzogs Freude.
Doch da wird der Prinz viel schwärzer
Als des Herzogs Tintenfinger,
Den er braucht zum Unterzeichnen,
Und der Herzog sieht mit Schrecken,
Dass es sei ein Mohrenjunge,
Was noch keiner von den Ärzten
Hat gewagt, ihm zu verkünden.
Und der Herzog will verzweifeln,
Beißet sich auf seinen Finger
Und der schmecket gar nach Tinte;
Und die Herzogin erboßet,
Dass ihr guter Ruf könnt leiden,
Wütet ein auf die Prinzessin, –
Doch es muss verheimlicht werden.
Traurend wird des Thrones Erbe
Bei dem Volke tot gesaget,
Und ein Affe wird geschlachtet
Von den beiden flinken Ärzten,
Wohlrasiert und angezogen,
Mit dem Myrtenkranz und Degen,
In ein kleines Sarg geleget,
Schwach beleuchtet ausgestellet,
Und mit großem Leichenzuge
Beigesetzt in der Kapelle.

 

Die ganze Geschichte hat einen etwas unernsten und bisweilen mutwilligen Tonfall, in dieser Hinsicht Karl Immermanns vor einigen Tagen unter (55) erwähnten „Tulifäntchen“ durchaus vergleichbar; allerdings hat Immermann im Vergleich zu Arnim die besseren Verse geschrieben!

Arnims Vierheber wirken auf mich nicht mühlelos, sondern eher so, als hätte er auf das Schreiben keine Mühe verwendet. Der Vers tritt gegenüber dem Satz stark zurück, und da, wo sein Einfluss hörbar wird, ist es oft zum Schlechten, etwa, wenn nicht nur vor einem Vokal, sondern auch vor einem Konsonanten ein schwaches „e“ abgeworfen wird: „Straf‘ bescheret“, „mögt‘ vertauschet“. Derlei ist in Reimversen häufiger zu hören und gefällt mir auch da schon nicht recht, ist aber in ungereimten „Bewegungsversen“ noch deutlich unangenehmer!?

Andererseits bekommt der Text gerade so den mutwilligen, eigenen Ton; und man darf auch nicht vergessen, dass diese Geschichte bei aller Länge innerhalb eines umfangreichen Prosatextes steht.

Also, lesbar sind diese Vierheber auch in der Menge allemal, und auch die Geschichte geht, ganz am Ende, gut aus, als es vom Herzog („er“) und vom Mohrenjungen heißt:

 

Klüglich nimmt er an den Jungen,
Sich zum Hof- und Staatspropheten,
Dass er ihm die Krone halte.

An M**

Alles ist endlich; ein jedes Haar, das ein Mensch auf den Zähnen,
Endlich ist alles! hat: wächst auf dem Kopfe ihm nicht.

Erzählverse: Der Blankvers (83)

Heinrich Heines Blankverse haben, wie die eines jeden „großen“ Dichters,  einen eigenen Ton, wie zum Beispiel „Morphine“ gut zeigt:

 

Groß ist die Ähnlichkeit der beiden schönen
Jünglingsgestalten, ob der eine gleich
Viel blässer als der andre, auch viel strenger,
Fast möcht ich sagen viel vornehmer aussieht
Als jener andre, welcher mich vertraulich
In seine Arme schloss – wie lieblich sanft
War dann sein Lächeln und sein Blick wie selig!
Dann mocht‘ es wohl gescheh’n, dass seines Hauptes
Mohnblumenkranz auch meine Stirn berührte
Und seltsam duftend allen Schmerz verscheuchte
Aus meiner Seel‘ – doch solche Linderung,
Sie dauert kurze Zeit; genesen gänzlich
Kann ich nur dann, wenn seine Fackel senkt
Der andre Bruder, der so ernst und bleich. –
Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser – freilich
Das beste wäre, nie geboren sein.

 

Erstaunlich auch, dass der Text in den ersten beiden Versen gar nicht auf die „eigentliche“ Blankvers-Linie einschwenkt, sondern in beiden Fällen mit einer versetzen Betonung beginnt?!

Ohne Titel

Hell hebt sich der Tag aus dem Dunkel der Nacht, doch wo sich die beiden verheddern:
Da dämmert dir, Mensch, was, beweist du Geduld, bald klar sich dir zeigt (als Entwirrtes).

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (5)

Das in (4) vorgestellte Reimpaar der Form …

x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X
x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X

… hat der von Langverspaaren sehr angetane Carl Spitteler in „Die Weltpost“ verwendet und dabei von dem stetigen, von keinem Zeilenumbruch aufgehaltenen Schreiten dieser Langverse guten Gebrauch zu machen gewusst:

 

Auf einem Berg ein Posthaus steht, das keinem andern gleicht,
Das nie ein Wandrer hat geschaut und nie ein Brief erreicht.
Die Riesensäle gähnen leer, kein Wort, kein Ruf erschallt.
Statt Menschengeist und Menschenhand wirkt eiserne Gewalt.
Von selber läuft das Räderwerk und eilt der Pendel Takt.
An allen Enden schafft es leis, prickelt und pocht und knackt.
Beständig summt der Telegraf und saust Depeschenflug.
Im Hofe vor dem Fenster fährt ein Doppelschienenzug.
Die einen Wagen fahren her, die andern fahren hin,
Viel tausend Seelen sitzen stumm und totenbleich darin.

Nur einmal, wenn auf Mitternacht der Wanduhrzeiger steht,
Juckt durch die Wand ein Glockenspiel, ein Hahn springt vor und kräht.
Die heiligen Apostel zwölf marschieren langsam auf.
Ein Herold hebt den Botenstab und eine Tür geht auf.
Jetzt öffnet er den Stentormund und stampft mit Stab und Fuß:
„Erhebet Euch, der Meister kommt, entbietet ihm den Gruß.“
Da braust ein Aufruhr durch das Haus und hast’ger Stimmenhall,
Urplötzlich stockt das Räderwerk und die Maschinen all:
Im Hofe stemmt den Eisenfuß die Doppelschienenbahn,
Alles pausiert erwartungsvoll und hält den Atem an.
Durch schwarzes Schweigen tönen laut elf Glockenschläge nur –
Doch wenn den zwölften Glockenschlag getan die Wunderuhr,
Da kichert’s in der Gegenwand und lacht wie Teufelshohn,
Ein Klingelruf, ein Judasschrei schrillt aus dem Telefon:
„Den Meister heischet ihr umsonst, der Meister der ist krank.“
Der Herold senkt den Botenstab und knarrend in den Schrank
Verschwinden Hahn und Glockenspiel, die Wand verschlingt das Tor,
Der Seelenzug hebt wieder an die Fahrt. Und wie zuvor
Geht bei geschäft’gem Rädertakt und Telegrafensang
Die wundersame Weltenpost den geisterhaften Gang.

 

Spannend zu hören, auch: Wo Spitteler den Vers mit einem tiefen Sinneinschnitt und damit einer deutlichen Pause schließt, und wo er, seltener, den Inhalt über die Versgrenze hinwegfließen lässt?! Die Zäsur wird nur im drittletzten Vers durch einen stärkeren, in der Nähe befindlichen Satzeinschnitt verwischt; auch die Auflockerung durch eine versetzte Betonung ist nur gelegentlich vernehmbar!

Erzählformen: Die Brunnenstrophe (14)

Wenn man an die Brunnenstrophe denkt, hat man wahrscheinlich als erstens den kennzeichnenden Ton im Ohr, den die Strophe in der Romantik gewonnen hat: „In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad …“ Aber die Strophe war selbstverständlich auch vor und nach der Romantik in Gebrauch, in vielen und ganz verschiedenen Ausformungen. Ein Beispiel für einen etwas ungewohnteren Klang ist der dialektal gefärbte „Wert des Lebens“ von Adolf Glaßbrenner:

 

Er stand an dem Kupfergraben
Der Eckensteher Zimmt,
Er schaute hinab in das Wasser
Und war sehr trübe gestimmt.

„Wat soll ick mir länger hier quälen?
So’n Leben hab ick satt!
Ich stürze mir runter in’t Wasser,
Wo allens en Ende hat.“

So sprach er und machte schon Anstalt –
Da kam ein Kollege vorbei;
Der sagte: „Ich habe vier Groschen,
Die woll’n wir verkümmeln, juchei!“

Da besann sich der Zimmt ein wenig
Und rief: „Wat bin ick vor’n Tor!
Wat hilft mir denn ooch det Ersaufen?
Ick ziehe det Besaufen vor!“