Erzählformen: Das Distichon (86)

Wahrheit, lebendig gesagt, so dass die Worte verschwinden,
Zeiget jedem sein Bild wie ein geschliff’ner Kristall.

 

„Lebendig gesagt“ erscheint, selbst in der Schrift, auch dieses Distichon von Wilhelm Heinse. Und darum, vielleicht: auch wahr?!

Die metrische Form:

Wahrheit, le- / bendig ge- / sagt, || so / dass die / Worte ver- / schwinden,
Zeiget / jedem sein / Bild || wie ein ge- / schliff’ner Kris- / tall.

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ ◡ / — ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Der Satz durchläuft auf schöne Art den durch das Distichon aufgespannten Raum! „Dass die“ ist eine etwas schmalbrüstige zweisilbige Einheit, aber ach: das geht schon.

Erzählverse: Der Blankvers (101)

Gustav Falkes „Die Equipage“ ist ein recht bewegtes Gedicht über eine Kutsche, deren Pferde durchgehen, und ihre Insassen. Alles durchaus lesenswert, ich möchte hier Falke aber nur einen dieser Insassen vorstellen lassen, den kleinsten:

 

Der Seidenpinscher mit dem Fell wie Schnee,
Der auf dem Vordersitz bequem sich’s macht,
Hebt ganz verwundert seine klugen Augen.
Höchst unklar ist noch immer ihm der Vorgang,
Und fragend blickt er bald auf Fritz, bald auf
Die junge Herrin. Aus dem Zahngehege,
Dem scharfen, hechelt Fifis rosig Zünglein,
Und an dem himmelblauen Halsband zittert
Ein Silberglöckchen, dessen Kling und Pling
Im Donnerlaut des Hufschlags untergeht.

 

„Fritz“ ist der vielleicht bewusstlose, vielleicht tote Kutscher; der letzte Vers führt den Leser wieder zurück zur eigentlichen Handlung, die für die Beteiligten kein gutes Ende nimmt – allerdings außerhalb des Sichtfeldes des Lesers, was durch einen Vers erreicht wird, der dem Unachtsamen höchst missverständlich ist:

 

Die wilde Jagd verschlingt ein Tannenwäldchen.

 

Oha. Aber man bekommt es sortiert … Insgesamt ist Falkes Blankvers ruhig und gelassen, ein eigenartiger Kontrast zur Dramatik des Erzählten.

Das Königreich von Sede (103)

Prinz Klappstuhl saß am Grabenrand,
Ein Büchlein in der einen Hand,
Die Feder in der andern,
Und ließ, vernahm er Froschgequak,
Den Tintenspender wandern.

Wozu der Tiere Ruf ihn trieb,
Was er geduldig niederschrieb,
Vermag ich nicht zu sagen:
Er schloss das Büchlein, barg’s im Wams
Und hat’s still heimgetragen.

Durch Zeiten und Sprachen: Anapäste

1779 hat Klopstock bezüglich seiner „anapästischen Versart“ – beim Verserzähler schon einmal knapp vorgestellt in Die Bewegungsschule (21) – geschrieben:

Ich gebe dem Anapäst den Baccheus zum Begleiter, weil dieser das Feuer desselben, ohne es zu unterdrücken, am besten mäßigt.

Meint: An verschiedenen Stellen im Vers kann der Anapäst, ◡ ◡ —, durch einen Baccheus, ◡ — — ersetzt werden; aus dem von Klopstock genannten Grund.

In Verse. An Introduction to Prosody von Charles O. Hartman, erschienen 2015 bei Wiley Blackwell, habe ich heute bezüglich dieses Austauschs (und dem des Anapäst, ◡ ◡ —,  gegen einen Kretikus,  — ◡ —) gelesen (Seite 68):

Especially by using these two substitutions the poet can keep the reader just sligthly off balance und therefore intrigued. The reader slows down to pay attention yet continues to feel the forward monumentum of the anapestic norm.

Das sagt sicher etwas anderes aus als Klopstocks Worte; aber immerhin etwas sehr ähnliches, 230 Jahre später und in einer benachbarten Sprache: „Mannigfaltigkeit“, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhalten; und „mäßigen, ohne zu unterdrücken“.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (66)

Heinrich von Reder beschreibt in „Vor Bazeilles“ Einzelheiten eines der blutigeren Kämpfe des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 / 1871:

 

Vor Bazeilles im Straßengraben
Lag erstarrt ein junger Jäger,
Einer von den „blauen Teufeln“,
Die bei Weißenburg gefochten.
Auf dem blauen Odel schwammen
Seine blonden Ringellocken,
Und dazwischen hingen schmierig
Giftiggrün Kartoffelknollen.
Größer kaum wie Marmelschusser,
Die den Kindern sind ein Spielwerk,
Grub er sie beim Halt im Marsche
Mit den Fingern aus dem Feld.
Aufbewahrt fürs nächste Biwak
Waren sie aus seinem Brotsack,
Als er stürzte, ausgeronnen
In das Gold von seinen Locken.

An der Grabenböschung lagen
Mancher Türko und Zuave
Steif in ihren Pluderhosen,
In den Händen noch den Chassepot.
Ihre feuchten Reisrationen
Hingen aus den Blechgeschirren
Grau und klumpig am Tornister,
Besser kaum als die Kartoffeln.
Hie und da braunrote Tupfen
Klebten auf den Uniformen,
Schmutzbedeckt vom Staub der Straße
Und dem letzten Lagerplatz.
Sohn der Alpen, Sohn der Wüste,
Du verlor’n Pariser Kind!
Nimmer kann ich euch vergessen
Mit dem Totenfleckgesicht –

Plaudernd ritt ein Stab vorüber,
War gefolgt von einem Wagen,
Angefüllt mit Dienstpapieren,
Rotwein, Schinken und Konserven.

 

Nüchtern, aber auch etwas ungelenk werden Dinge und Ereignisse beschrieben, die 150 Jahre später kaum mehr in erinnerung sind:“Bei Weißenburg“ gab es einen Monat vor „Bazeilles“ eine Schlacht, „Turcos und Zuaven“ meint die Nordafrikaner, die in der französischen Armee dienten;  „Chassepot“ ist ein Gewehr.

Der trochäische Vierheber ist dabei auch dieser Aufgabe gewachsen; diesmal spröde und glanzlos leistet er, was in einem solchen Text geleistet werden muss.