Erzählverse: Der Blankvers (100)

Alfons Paquets Blankvers klingt in „Melencolia. Ein Fragment, zu Dürers Holzschnitt“ dem Gegenstand angemessen schwer und lastend:

 

Fern zuckt im Zwitterschein der hohe Himmel,
Starr liegt die schöne Küste, starr und kalt
Erglänzt das Meer; grell leuchtend stürzt
Sich ein Komet von einem Tod zum andern …
Ein Nordlicht flimmt mit ungewissem Schimmer,
Sprüht! Sprüht empor, gespenstisch Farb‘ und Form,
Und lodert auf, und ab – erbleicht, vergeht,
So wie es kam: als ein verirrtes Licht.

Hier kaur‘ ich denn am Ende meiner Welt
Und schaue meines Lebens Sinnbild nach,
Und warte seufzend, bis mein Glöcklein läute
Und sich von hinten eine sanfte Hand
Mir auf die Schulter legt …

 

Verse, die für sich stehen können und Geltung haben. Wer trotzdem Dürers berühmten Stich als Bezug anschauen möchte – der ist im Netz vielhundertfach zu finden; eine Möglichkeit ist dieser Artikel auf spiegel.de, der sich zum fünfhundersten „Geburtstag“ des Werkes mit einer seiner Besonderheiten beschäftigte: Ein mysteriöser Körper wird 500.

Bücher zum Vers (103)

Ezra Pound: „motz el son“ – Wort und Weise. Didaktik der Dichtung.

Daraus habe ich schon im vorgestrigen Eintrag zitiert – ein quadratisches, handliches Bändchen, erschienen 1957 im Verlag Die Arche. In ihm finden sich verschiedene, sonst nicht weiter aufeinander bezogene Texte Pounds theoretischen Wesens, die ihre Inhalte recht nachdrücklich vermitteln – am deutlichsten naturgemäß im Abschnitt „Credo“ (Seite 57-58), etwa:

Stil – Ich glaube an den Stil als Bewährungsprobe für die Aufrichtigkeit eines Menschen; an Regeln, wenn diese ermittelbar sind; an das Umstoßen jeder Konvention, die sich der Ermittlung von Regeln oder der präzisen Übersetzung der Eingebung entgegenstellt.“

Oder ein anderes Beispiel, Seite 51-52,  unter „Sprache“:

„Hüte dich vor Abstraktionen! Erzähle nicht in mittelmäßigen Versen, was bereits in guter Prosa gesagt wurde. Glaube nicht, dass sich ein kluger Mensch hinters Licht führen lässt, wenn du dich um die Schwierigkeiten der unsagbar schweren Kunst guter Prosa drückst, indem du deine Arbeit in regelmäßige Zeilen hackst!“

Wer so unbedingt sich ausdrückt, ist an vielen Stellen angreifbar, und oft zu Recht; aber das heißt ja nicht, das insgesamt das Nachdenken über solche Aussagen keine lohnende Sache wäre!

Hört!

Es ist Zeit. Es ist Zeit! Aus dem Abgrund hebt ein Gedicht sich empor (und die Wehmut).

Dieses mit jenem

Lesen heißt auch immer: verknüpfen. Das, was man schon gelesen hat, mit dem, was man gerade liest. Heute erinnerte ich mich an eine wegen ihres letzten Verses sehr bekannten Strophe Johann Gottfried Seumes (aus „Die Gesänge“):

 

Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.

 

Daran erinnert hat mich ein Satz von Ezra Pound in der Übersetzung von Eva Hesse: „Verbrecher haben keine geistigen Anliegen.“ Über die Unterschiede dieser beiden Aussagen lässt sich nachdenken …

Bücher zum Vers (102)

Annemarie Schöne: Englische Nonsense- und Grusel-Balladen. Intellektuelle Versspiele in Beispielen und Interpretationen und mit Übertragungen im Anhang.

Ein nicht allzu umfangreicher Band, erschienen1970 bei Vandenhoeck & Ruprecht. Trotzdem lässt sich manches Neue erfahren in den Kapiteln „Grusel-Balladen und Spiele mit dem Grausigen“ (Mit so eigenartigen Gattungen wie der „Epigrammatischen Schauergroteske“), „Nonsense-Balladen“ (mit Werken von Edward Lear und Lewis Carroll) und „Berührungspunkte zwischen Nonsense und metaphysischem Humor“ (mit Werken von G. K. Chesterton und T. S. Eliot).

Und auch die Wiederbegegnung mit Bekanntem lohnt, etwa Carrolls „The Mad Gardener’s Song“. Eine Strophe daraus:

He thougt he saw a Rattlesnake
That questioned him in Greek:
He looked again, and found it was
The middle of Next Week.
„The one thing I regret“, he said,
„Is that it cannot speak!“

Wer wüsste zu sagen

Als Doktor Sotz zum Himmel schaut, ist Dunkelheit:
Er hat den Tag verbastelt, und dabei entstand
Ein Knopf (womit verbunden, lehrt das Dunkel nicht),
Den Sotz nun drückt. Er wartet; sein Erfinderstolz
Nimmt zu, wie es das Licht tut, und: ein neuer Tag.