Der Blankvers ist auch genutzt worden, um Dichtungen fremder Sprachen ins Deutsche zu holen. Auch nach bald 250 Jahren ist für mich Christoph Martin Wielands Übersetzung von Horaz‘ „Satiren“ ein wirklich gelungenes Beispiel dafür. Aus der vierten Satire des ersten Buchs:
Vor allen Dingen nehm‘ ich aus dem Häufchen,
dem ich den Dichternamen zugestehen möchte,
mich selber aus. Dazu gehört schon mehr
als einen runden Vers zu drehen wissen;
und wer, wie ich, in einer Sprache, die
so nah an die gemeine angrenzt, schreibt,
ist darum lange noch kein Dichter. Dem,
der Dichtergeist, der eine mit den Göttern
verwandte Seele hat, und dessen Mund
erhabene Gedanken und Gefühle
in mächt’gen Tönen ausströmt, dem allein
gebührt die Ehre dieses schönen Namens.
Eigentlich hat Horaz Hexameter geschrieben; seine Wahl, diese in „Freie Jamben“ zu übertragen, begründet Wieland so:
Der freie Jambus scheint geeigneter, dem Leser einen Begriff von der Leichtigkeit, Kunstlosigkeit und oft mit Fleiß gesuchten Nachlässigkeit des Horazischen Hexameters zu geben, und ungefähr dieselbe Wirkung auf deutsche Ohren, wie die Verse des Originals auf lateinische, zu machen. Ich sage mit Bedacht, der freie Jambus: eine Versart, worin ich zehn- und elfsilbige Verse häufig mit zwölf- und dreizehnsilbigen (soviel möglich ohne Abschnitt nach der sechsten Silbe) vermische, und dadurch ein Silbenmaß erhalte, das der Prosa sehr nahe kommt, und, ohne so ungebunden zu sein wie das Metrum der lateinischen Komödienschreiber, doch frei genug ist, um sich beinahe jedem Gedankenschwunge, jeder Wendung des Ausdrucks wie von selbst anzuschmiegen, und (wenn man anders die Kunst sie recht zu lesen versteht) dem Ohre, zu eben der Zeit, da es eine kunstlose Rede in dem gewöhnlichen Gange der Sprache des Umgangs zu hören glaubt, gleichwohl das kleine Vergnügen, das aus leiser und ununterbrochner Wahrnehmung des Rhythmus entsteht, in einem desto höhern Grade gewähret, je mehr Mannigfaltigkeit und Abwechselung dadurch in diese Art von Silbentanz gebracht wird.
Ich denke, da die „zehn- und elfsilbigen Verse“ doch bei weitem in der Überzahl sind, kann man immer noch von Blankversen reden?! Jedenfalls gelingt Wieland sein Vorhaben, und die Art, wie ein großer deutscher Dichter einen großen römischen Dichter überträgt, ist einfach nur wunderbar. Die Selbstverständlichkeit, mit der die immer spürbar gestaltete Sprache in den Versen fließt, beeindruckt mich sehr:
Verzeihe selbst, wenn du Verzeihung brauchst,
und soll ich deinen Höcker übersehen,
so halte meine Warzen mir zu gut.
Aus der dritten Satire. Wenn man das selbst versucht, stellt man erst fest, wie schwer es ist … Vielleicht liegt es auch an den Ergebnissen, die man als Nicht-Horaz und Nicht-Wieland vorlegt, wenn Habsüchtige, Ehrgeizige, Weiberhelden, Kaufleute so sich verhalten, wie es Horaz in der vierten Satire sagt?
omnes hi metuunt versus, odere poetam.
Natürlich fürchten diese wackren Leute
vor Versen sich, und hassen den Poeten.