Gotthelf Wilhelm Christoph Starkes „Der Dichter“
Worum geht es?
Während Philetes, ein Dichter, über dem Dichten die Zeit vergisst, warten seine Frau und seine Kinder mit dem Essen auf ihn. Als er endlich heimkommt, findet Philetes seinen Hund sterbend; er hat einen Happen vom Essen bekommen. Es stellt sich heraus, dass das Essen versehentlich vergiftet worden ist. Alle sind froh, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, und Philetes dankt überschwenglich den Musen, die ihn sich haben verspäten lassen.
Das klingt harmlos, und ist es auch: Diese 77 Hexameter lange Dichtung ist ein hübsches Nichts. Brauchte Starke, einer der typischen „Dichter im Nebenberuf“ des 18. Jahrhunderts, eine Entschuldigung, weil er selbst nie pünktlich war? Wer weiß …
Man kann den Text aber trotzdem schnell mal lesen, denn Starke hat den Vers recht gut im Griff. Die Hexameter passen sich dem Inhalt an, sie sind leicht – die Versschlüsse etwa sind meist auf Silben mit schwachem „-e“ – und vor allem schnell. Ich gebe einige Verse, die den dichtenden Philetes zeigen:
Wonniglich ging er einher, versunken in schönen Gedanken,
Hörte der Himmlischen Gruß, die des Sterblichen Hütte besuchten,
Schwebte mit ihnen empor zum Olympos, und kostete Nektar,
Folgte dann schauernd hinab zu den Schatten dem schwebenden Hermes;
Freundlich umstrahlt ihn der Glanz von Elysiums goldenen Blumen.
Süß war seine Begeistrung, und süß sein liebendes Streben,
Ihre Gebild‘ in den Schmuck harmonischer Rede zu kleiden.
Das kann man fraglos einfach so runterlesen, es schmeckt und man wird doch weder satt noch fett davon. Das „hinauf – hinab“ ist aber nett gemacht, scheint mir.
„Schnell“ sind diese Verse nun, weil sie fast jede Senkung mit zwei unbetonten Silben besetzen. Wenn man die ersten vier metrischen Einheiten betrachtet, bei denen sich die Frage „Zwei- oder dreisilbig?“ ja nur stellt, ergeben sich in diesem kurzen Abschnitt 85% dreisilbige Einheiten!
Das Verhältnis von zwei- und dreisilbigen Einheiten prägt den Vers recht eindrücklich, weswegen es auch für viele Dichter bestimmt worden ist von klugen Leuten mit viel Zeit. Bei Homer etwa, dem Griechen, zählte man 68 % dreisilbige Einheiten, beim Römer Vergil 40 %; die deutschen Dichter liegen dazwischen, Voss (65 % in der „Luise“) und Klopstock (61 % im „Messias“) näher bei Homer, Goethe (49 % im „Reineke“) in der Mitte mit Neigung zu Vergil.
Starkes Werte fallen sehr aus diesem Rahmen, aber über den ganzen Text ist der Prozentsatz, wenn auch immer noch hoch, so doch sicher geringer. Seine zweisilbigen Einheiten sind, wie hier, meist an Stellen gesetzt, die zeigen, dass sie „von der Dreisilbigkeit her“ gedacht sind:
Wonniglich / ging er ein- / her, || ver- / sunken in / schönen Ge- / danken,
Süß war / seine Be- / geistrung, || und / süß sein / liebendes / Streben,
Ihre Ge- / bild‚ in den / Schmuck || har- / monischer / Rede zu / kleiden.
In zwei der vier Fälle ist die zweisilbige Einheit die Einheit, in der auch die Zäsur liegt, so dass die dort nötige Sprechpause die zweisilbige Einheit „längt“ und so den dreisilbigen annährt; einmal ist die erste Einheit betroffen (Süß war), wo der Vers am Beginn eines neuen Satzes erst einmal Fahrt aufnehmen muss und eine langsamere Einheit ganz gut passt; was dann nach der Zäsur gleich noch einmal wiederholend-wiederaufnehmend geschieht (süß sein)! Den Versuch, wie Voss die antiken „Spondeen“ (schwer-schwer) nachzubilden, unterlässt Starke völlig, und so ist sein Gesang dann, wie der des Philetes, „süß“, den Musen geschuldet,
Welche den Dichter verstrickten in Banden des süßen Gesanges.
Wer will da noch scheiden zwischen Schreibendem und Beschriebenem …