Zuletzt erfuhr er: auf einem Berge,
Nah bei der Wüste am Bache Krit,
Da wohne ein alter Eremit,
Ein Mann, dem Geister, Elfen und Zwerge
Gehorsam wären allzumal;
Er kenne genau der Sterne Zahl
Und jede Kraft in Kräutern und Steinen,
Er mache Wetter, Regen und Wind,
Lasse bei Nacht die Sonne scheinen,
Wenn’s ihm beliebe, sei taub und blind
Vor hohem Alter, und hör‘ und sehe
Doch alles, was auf der Welt geschehe.
Ich glaube, so eine Grundvorstellung habe ich inzwischen vermitteln können vom Knittel; damit spricht nichts dagegen, Texte anzugehen, die die Freiheiten dieses Maßes recht weit ausreizen. Der hier vorgestellte Text ist allerdings noch keiner davon! Das ist ein Ausschnitt aus Christoph Martin Wielands „Gandalin“. Wieland konnte Verse fließen lassen wie kaum ein zweiter, und hier nutzt er dafür einen nur mäßig freien Vers:
(x) X / (x) x X / (x) x X / (x) x X / (x)
(Mit X = betonte Silbe, x = unbetonte Silbe, (x) = unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht muss.) Das kann man sicherlich als Knittelvers auffassen, aber dann ist’s ein sehr braver, der auf drei- oder viersilbig besetzte Senkungen verzichtet und auch vom Zusammenstoß betonter Silben nichts wissen will! Dafür ist aber die Reimstellung freier als in den bisherigen Beispielen.
Das entscheidende aber ist der Wohlklang , der Fluss der Verse, die scheinbar ganz einfach gebaut sind; sobald man es aber selbst versucht, stellt man fest, dass derlei rasend schwierig ist. Ich überlasse daher lieber wieder Wieland das Wort und füge noch einen zweiten Abschnitt aus dem „Gandalin“ hinzu (beide Abschnitte laut zu lesen, gerne mehr als einmal, ist wahrscheinlich eine große Hilfe, wenn man dem „Geheimnis“ der Wielandschen Verskunst auf die Schliche kommen will). Das wäre dann das eine Ende der Möglichkeiten, die sehr sparsame Nutzung der Knittel-Freiheiten; das andere Ende, der großzügige Gebrauch dieser Freiheiten, folgt dann im nächsten Knittel-Eintrag.
[…] Aber die Art Liebe,
Die tief im Eingeweid brennt und nagt,
Die alle Lust zu Spiel und Scherzen,
Die Schlaf und Esslust euch versagt,
Und ohne Rast, den Pfeil im Herzen,
Durch Berg und Tal euch treibt und jagt,
Bis ihr erschöpft von Angst und Schmerzen,
Verblutet, lechzend, atemlos
Der schönen Feindin vor die Füße
Hinsinkt, das Köpfchen in ihren Schoß
Verbergt und sterbt, und glaubt wie süße
Der Tod euch schmecke, wenn allenfalls
Ihr glattes Pfötchen um Brust und Hals
Euch noch zur Letze freundlich krabbelt,
Und euer gebrochnes Herzchen wohl gar
An ihrem Busen sich verzabbelt:
Das nenn‘ ich lieben! Nur ist’s rar!
Dieser zweite Abschnitt ist ruhiger als der erste insofern, als dass wesentlich weniger Senkungen zweisilbig besetzt sind; viele Verse könnten auch in einem streng alternierenden Text stehen – von Durch Berg …“ bis „vor die Füße“ gleich vier Verse, zum Beispiel. Die wenigen vorhandenen zweihebig besetzten Senkungen reichen aber, um dem Vers sein eigenes Gesicht zu geben und den dem (sehr langen) Text eigenen „Ton“ vernehmbar werden zu lassen?!