Die Bewegungsschule (15)

Verse in Versen. Das ist so eine kleine Spinnerei von mir … Der Hexameter ist einer der rhythmisch vielfältigsten Verse überhaupt, da kann es nicht verwundern, dass andere, kürzere Verse in ihm enthalten sind. Unser „Bewegungsschulen-Vers“ ist da keine Ausnahme! Ich zeige das an einem zufällig ausgewählten Hexameter aus Johann Heinrich Voss‘ Ilias-Übersetzung, 23,330:

Dort in der Enge des Wegs, wo die ebene Bahn sich herumschwingt

Aus diesem Vers kann man jetzt einen „unserer“ Verse herauslösen!

In der Enge des Wegs, wo die ebene Bahn

In der Enge der Wegs, || wo die ebene Bahn

ta ta TAM ta / ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM

Aber es geht auch andersrum – der Hexameter kann in einen Block von drei kürzeren Versen eingefügt werden:

ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta Dort
In der Enge der Wegs, || wo die ebene Bahn
Sich herumschwingt TAM || ta ta TAM ta ta TAM

Wenn der herausgelöste Vers nicht erhalten bleiben soll, geht es sogar in zwei kürzeren Versen:

ta ta TAM ta ta Dort || in der Enge des Wegs,
wo die ebene Bahn || sich herumschwingt TAM

EIn Hexameter (sechs Hebungen) füllt also, wie zu erwarten, drei Halbverse „unseres“ Verses (je zwei Hebungen); der vierte Halbvers steht zerschnitten vorne und hinten.

Wie gesagt, das ist Spielerei. Aber vielleicht nicht nur: Denn wie das Abhorchen von Prosatexten auch, hilft ein solches Nachdenken über Verse sicher dabei, das eigene Empfinden für rhythmische Einheiten zu schärfen und zu üben?!

Aber eigentlich wollte ich in diesem Eintrag an den letzten anschließen und zeigen, wie die Wiederholung von rhythmischen Einheiten nicht zur Verstärkung der Wirkung (wie im letzten Eintrag gezeigt), sondern zur Schwächung der Wirkung führen kann; nämlich dann, wenn eine Einheit zu oft wiederholt wird!

Und gerade dafür ist der Hexameter ein sehr gutes Beispiel. In ihm ist, im Gegensatz zum hier vorgestellten Vers ,das taTAMta ohne weiteres möglich, und der Verfasser muss sehr aufpassen, dass diese taTAMta nicht überhandnehmen im Vers und ihn zu gleichförmig werden lassen!

Möglich sind nämlich gleich fünf davon nacheinander. Als Beispiel wähle ich einen der wenigen Hexameter, die Anette von Droste-Hülshoff geschrieben hat:

O, so mögen die Götter der Liebe und Treue euch segnen

O, / so gen / die Götter || der Liebe / und Treue / euch segnen

TAM / ta TAM ta / ta TAM ta || ta TAM ta / ta TAM ta / ta TAM ta

Man versteht, wie leicht da reingestolpert ist; und man hört, dass dieses dauernde taTAMta, ohne irgendeine Abwechslung, das Ohr ermüdet!

Nun ist das, geschieht es nur in einem Vers, sicherlich kein Weltuntergang; und die Verfasserin des gezeigten Verses hat ja auch kaum Hexameter geschrieben, so dass sie vielleicht nicht so genau hingehört hat?! Und überhaupt – Verse dieser Art finden sich bei vielen Verfassern, auch bei Goethe:

Über die Schwelle mir kommen, vom Bücherverleiher gesendet.

– Der Schlussvers seiner zweiten Epistel. Aber wie oft: Goethe darf sowas, der Vers klingt eigentlich gar nicht sooo eintönig?! Alle aber, die nicht sein Sprachgefühl haben, sollten aufpasssen, dass sie nicht durch zu häufige Wiederholung von rhythmischen Einheiten die Verse eintönig werden lassen. Für den Hexameter gab es früher die Daumenregel: Keine Einheit mehr als zweimal direkt hintereinander! Und ich glaube, das kann man so gelten lassen; jedenfalls ist man damit auf der sicheren Seite.

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