Ich möchte, wie in den letzten Bewegungsschule-Einträgen schon, noch einige Sinneinheiten in ihrer Bewegung vorstellen, darüber aber auch den zuvor vorgestellten Vers nicht vergessen. Daher hier und heute ein Blick auf Victor von Scheffels „Waldfrevel“, der „unseren“ Vers verwendet! Scheffel nutzt die möglichen Freiheiten des Verses etwas großzügiger, als ich das bisher vorgeschlagen habe, und das vor allem in zweierlei Hinsicht:
– Scheffel nutzt die „Verkürzung“ deutlich häufiger, hat also oft statt „ta ta“ (zwei leichte Silben) nur „ta“ (eine leichte Silbe).
– Scheffel setzt gelegentlich eine schwere Silbe auf eine leichte Versstelle.
Ich schaue im weiteren auf das erste Dutzend Verse seines Textes und mache dabei diese beiden Abweichungen kenntlich – ta ist eine „freiere“ Verkürzung, ta eine schwere Silbe, die als leichte Silbe genutzt wird. Zuerst aber der reine Text:
Ein gastlich Quartier um Mitternacht
Hab vom Wald ich geheischt; gern bot er mir dar
Ein windstill Lager im dicht’sten Gehölz,
In samtweichem Moose, von Farren umschwankt,
Den umsponnenen Stein als Kissen des Kopfs,
Altknorrige Eichen als Hüter.
Unlang war der Schlaf; es umschwebte mich nicht
Süß gaukelnder Traum und entführte mir nicht
Zu dir, mein Magnet, die Gedanken.
Jäh fuhr ich empor mit unwirschem Fluch,
Geweckt von dem Schalle der hauenden Axt,
Der, doppelt so stark
Denn bei Tag, weit rief durch die Nacht hin.
Und dazu nun die „Bewegungsbilder“ in der Form Vers, Silbenbild, Anmerkung.
Ein gastlich Quartier um Mitternacht
ta TAM ta ta TAM || ta TAM ta TAM
Der erste Vers hat zwei Verkürzungen, die im bisher vorgestellten Versrahmen bedenklich wären; „Mitternacht“ wäre aber auch da möglich.
Hab vom Wald ich geheischt; gern bot er mir dar
ta ta TAM / ta ta TAM || TAM / TAM ta ta TAM
Ein Vers, der die Grundbewegung sehr klar wiedergibt!
Ein windstill Lager im dicht’sten Gehölz,
ta TAM TAM TAM ta || ta TAM ta ta TAM
Eine „freiere“ Verkürzung; die Zäsur ist verschoben.
In samtweichem Moose, von Farren umschwankt,
ta TAM ta ta TAM ta || ta TAM ta / ta TAM
„-weich-“ ist hier „kurz“, was hinter dem „samt-“ sicherlich geht; für Scheffel ist das Silbengewicht nicht so entscheidend, er hört mehr die Betonung! Die Zäsur ist wieder versetzt. (Farren = Farnen.)
Den umsponnenen Stein als Kissen des Kopfs,
ta ta TAM ta ta TAM || ta TAM ta / ta TAM
„als“ ist vielleicht auch schon ein „TAM“. „Kissen des Kopfs“ klingt unfreiwillig komisch, heutzutage.
Altknorrige Eichen als Hüter.
TAM TAM ta ta TAM ta / ta TAM ta
Ein Schlussvers, passend am Ende des Anschnitts. „Altknorr-“ ist eine schwebende Betonung?!
Unlang war der Schlaf; es umschwebte mich nicht
TAM TAM / ta ta TAM || ta ta TAM ta / ta TAM
„Unlang“, wieder eine schwebende Betonung.
Süß gaukelnder Traum und entführte mir nicht
TAM TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta / ta TAM
Sehr auffällig, das wiederholte „nicht“ des Vorverses!
Zu dir, mein Magnet, die Gedanken.
ta TAM / ta ta TAM / ta ta TAM ta
Wieder ein Schlussvers. „Dir“ ist als Pronomen betont; einer der seltenen Fälle, dass ein Bauwort betont wird. Der „Magnet“ ist wohl die Angebetete des Sprechenden, „Wilhelmina“.
Jäh fuhr ich empor mit unwirschem Fluch,
TAM / TAM ta ta TAM || ta TAM ta ta TAM
„-wirsch-“ ist schwer, aber auf eine „leichte“ Stelle gestellt; das geht wirklich nur, wenn nur die Betonung betrachtet wird, und selbst da knirscht es?!
Geweckt von dem Schalle der hauenden Axt,
ta TAM / ta ta TAM ta || ta TAM ta ta TAM
Die Zäsur ist verschoben.
Der, doppelt so stark
ta / TAM ta ta TAM
Ein auflockernder Halbvers. Das „Der“ gewinnt Gewicht durch das folgende Komma, das „Alleinstehen“ – vielleicht ists schon ein „TAM“?!
Denn bei Tag, weit rief durch die Nacht hin.
ta ta TAM / TAM TAM / ta ta TAM ta
Der dritte Schlussvers, wieder am Absatzende. „weit rief“, „TAM TAM„, würde in meinen Schluss-Versen nur am Versanfang erscheinen; aber hier hat es ohne Frage eine sehr schöne Wirkung auch in der Versmitte!
Soweit. Wer mag, kann sich ja den restlichen Text im Netz anschauen und auf die Bewegungslinien hin abhören?! (Wikipedia hat, erstaunlicherweise, einen längeren Eintrag zur „Waldeinsamkeit“ – das ist der Zyklus, aus dem „Waldfrevel“ stammt.) Was auffällt: Die zusätzlichen Verkürzungen (ta) stehen immer am Versanfang oder nach der Zäsur, also da, wo eine Pause vorangeht. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist …
Aber wie auch immer: Der Vers, den Scheffel hier für sich gefunden hat, trägt, finde ich. Er nutzt die möglichen Freiheiten etwas großzügiger, als ich es bisher vorgeschlagen habe, hat aber trotzdem eine Mitte und vor allem ein Bewusstsein dafür, was er macht und was er lässt. Dadurch wird er als Vers, als bestimmter Wort-Raum erkenn- und erfahrbar!