Paul Heyses „Thekla“ (5)
Im fünften Gesang bricht Thekla mit Hilfe des Türsklaven von zu Hause auf, schleicht sich zum Gefängnis, besticht einen der Wächter und gelangt so zu Tryphon. Sie hat sich auch schon überlegt, wie sie ihm zur Flucht verhelfen kann, doch leider ist der Apostel angekettet. So bleibt ihr also nur, sich Rat zu holen bezüglich ihres Verlobten, ihrer Mutter, dem christlichen Glauben. Tryphon hingegen ist zutiefst gerührt darüber, dass Thekla, obwohl die beiden ja gar nicht bekannt sind, sich für ihn in Gefahr begibt. Und so reden sie, und reden; und vergessen die Zeit ….
Beim Versaufbau möchte ich nochmal auf die immer gleiche Schlusswendung zurückkommen. Die hat nämlich Auswirkungen auf den ganzen Vers. Denn wenn dieses „X x x / X x“ dem Hörer den Versschluss anzeigen soll, dann darf es nirgendswo sonst im Vers auftauchen, da es sonst für Verwirrung sorgt. Diese Gefahr ist zum Beispiel dann gegeben, wenn die Zäsur in der vierten Einheit liegt, genauer: hinter der unbetonten Silbe der vierten Einheit. Also so:
X x (x) / X x (x) / X x x / X x || x / X x x / X x
Vor der Zäsur kann sich dabei die Schlusswendung bilden – ich habe sie mal fett gekennzeichnet. Wenn sie da erklingt und von der zur Zäsur gehörenden Pause abgeschlossen wird, dann klingt die richtige Schlusswendung, die von der Pause am Versende abgeschlossen wird, bloß noch wie eine Wiederholung.
Wer nun Diesem zu Lieb‘ und Jenem und Hunderten handelt,
Kennt er den Herrn, der nur in der Tiefe des innersten Wesens
Ihm sich enthüllt? Er lebt in den Tag hin, glaubens- und gottlos.
Ja. Unverkennbarer Apostel-Ton … Worauf es mir hier aber ankommt: Der zweite Vers hat ein kleines Problem.
Kennt er den Herrn, / der nur in der Tiefe / des innersten Wesens
Wenn man ihn nach Sinneinheiten abteilt, erkennt man, dass die zweite und die dritte Einheit genau gleich sind, und praktisch (bis auf einen vorgelagerten unbetonten Artikel) der Schlusswendung entsprechen! Das verwischt die dem Vers eigene Bewegung. Und der dritte Vers hat im wesentlichen die gleiche Sorge …
Aber sicherlich: Ein Vers unter vielen kann das immer machen, bedenklich wird es erst, wenn es in Massen auftritt. Und dass man derlei sogar ganz bewusst zur Versgestaltung einsetzen kann, beweist der berühmte Vers aus dem „Sicheren Mann“ von Mörike – es geht um einen Riesen, der ein Buch aus Scheunentoren vollgeschrieben hat.
Endlich am Schluss denn folget das Punktum, groß wie ein Kindskopf.
Wieder nach Sinneinheiten aufgeteilt:
Endlich am Schluss denn / folget das Punktum, / groß wie ein Kindskopf.
Mörike hat den Vers auf der Ebene der Sinneinheiten in drei(!) aufeinanderfolgende Schlusswendungen aufgeteilt! Das unterstützt den Inhalt aufs äußerste – da wurde ein Buch wahrlich und wahrhaftig abgeschlossen!? Normalerweise wäre das ein bedenklicher Vers, aber hier ist es herrlich anzuhören.
Ein anderer Ort, an dem die Schlusswendung nichts zu suchen hat, ist – wenig überraschend – der Versanfang. Wenn man sich die bisherigen Beispiele anschaut, erkennt man, dass zu der Zäsur in der vierten Einheit immer eine zweite tritt, die in der zweiten Einheit liegt. Auch danach folgt eine Sprechpause, und auch davor könnte eine Schlusswendung folgen. Aber Heyse hat vor den wirklichen schweren Pausen immer eine andere Wendung!
Entweder diese: X x x X (wie schon oben):
Gottes Gesetz! Nun siehe, wir fanden es eines und vielfach.
Wieder der Apostel. Thekla verwendet gegenüber dem Türsklaven die Wendung X x X:
Still, mein Freund! Ich bin’s, und komme zu dir, denn ich weiß ja,
Alles beide „männnliche“ Zäsuren nach der betonten Silbe. Wenn der Schnitt in der zweiten Einheit nach der unbetonten Silbe erfolgt, sieht die Wendung immer so aus: X x X x.
Geh, du Teure! Der Segen des Herrn sei über dem Haupt dir,
Wieder Tryphon (offensichtlich). Jedenfalls verkneift sich Heyse die Wendung „X x x X x“ vor einer schweren Zäsur durchgängig. Am nächsten ran reicht so etwas:
Halblaut summt‘ er ein Liedchen und pochte den Takt mit der Lanze,
Gähnte dazwischen und kraulte den Bart. Noch zauderte Thekla,
Das ist jetzt der Wächter, und „Gähnte dazwischen“ das „X x x X x“, das ich meinte.
Na ja. Das war jetzt wieder eine Menge Versbau …. Aber die Versbewegung ist entscheidend für den Hexameter, und die setzt sich eben aus vielen einzelnen Bestandteilen zusammen. Ich mache Schluss für heute mit dem Erscheinen Theklas in der Zelle.
Hell war’s drinnen. Ein Fenster, verwahrt mit eisernem Gitter,
Ließ in das enge Gemach einströmen die Welle des Mondlichts.
Hier auf niedriger Schütte von Stroh lag Tryphon. Verwundert
Stützt er sich auf, da plötzlich die fremde Gestalt in die Pforte
Tritt mit scheuer Gebärde, das Haupt entschleiert, die Stirne
Tief von den Locken verhängt. Ein Traumbild meint er zu schauen.