Erzählverse: Der Hexameter (41)

Paul Heyses „Thekla“ (9)

Im neunten Gesang eilt Nathanaels (Theklas Nachbar) Sohn nach Ikonium um Neuigkeiten; auf halbem Weg trifft er die entgegenkommende Thekla und führt sie zu einem geräumigen Grabmal, in dem der Apostel Zuflucht gefunden hat mitsamt Nathanael und dessen Frau. Endlich sieht Thekla Tryphon wieder:

 

Doch als hätt in den Augen sich all ihr Leben gesammelt,
Blickte sie leuchtend hinan. An der vorderen Mauer des Grabmals
Lehnte, die Arme gekreuzt, mit sinnendem Haupte der Jünger.
Und wie sie jetzt sich ermannt, die Strecke des Wegs zu vollenden,
Wendet er sich und erkennt sie; da bricht ein Ruf des Entzückens
Aus der Seele des Freunds, und die Arme der Nahenden öffnend,
Schließt er das Mädchen darein, das wortlos ihm an die Brust sinkt.

 

Wie an manchen Stellen zuvor kann man sich auch hier durchaus fragen, ob Theklas Ex-Verlobter vielleicht doch ganz richtig lag, als er eine über das geistige hinausgehende Verbindung der beiden behauptete … Nach der tränenreichen Wiedervereinigung bricht Tryphon zu einer neuen Verkündigungsreise auf, während Thekla mit Nathanaels Familie nach Ikonium zurückkehrt. Doch schon kurz nach Aufbruch lässt sie die drei stehen und eilt dem Apostel hinterher. Sie erreicht ihn, fällt ihm zu Füßen, umklammert seine Knie und bittet ihn, mit ihm ziehen zu dürfen. Der Apostel weist sie zurück, da er fürchtet, nicht tun zu können, was sein Gott vielleicht von ihm verlangt, wenn er auf eine Frau an seiner Seite achtgeben muss. Aber er weiß Trost:

 

Darum blicke du frei mir wieder ins Auge. Du wirst mich
lange vielleicht entbehren und dann auf einmal erkennen,
Dass du mich besser besitzest und völliger, als du geahnt hast.
Senkt ich des Heilands Bild dir nicht in die liebende Seele?
Sieh, mich hast du in ihm, in ihm nur leb ich und bin ich,
Und dich hab ich in ihm. Wer will uns scheiden in Zukunft?

 

Die letzten beiden Zeilen sind bemerkenswert: 23 einsilbige Wörter nacheinander – das gibt es wahrlich nicht allzu oft! Wie immer gibt es da die Gefahr, die betonten Silben nicht problemlos finden zu können, aber es gibt ja drei feste Größen, die auch abseits der eigentlichen Wörter Hilfe geben: Die immer betonte erste Silbe, der Einschnitt in der Mitte, und die feste Schlussformel. Damit kommt man schon weit, und in der Regel auch weit genug:

Sieh, mich / hast du in / ihm, || in / ihm nur / leb ich und / bin ich,
Und dich / hab ich in / ihm. || Wer / will uns / scheiden in / Zukunft?

Trotzdem bleibt natürlich die Frage, ob es wirklich die beste Lösung ist, diese Zeilen, die ja der Höhepunkt von Tryphons Versuch sind, Thekla von einer Trennung zu überzeugen, mit so vielen „leeren Worten“ zu füllen. Ich finde es nicht ganz so gelungen. Thekla jedenfalls ist überzeugt:

 

Da erst blickt sie empor. Aus freudelächelnden Augen
Strahlt der gewonnene Sieg ihm triumphierend entgegen.

 

Die beiden einigen sich also darauf, getrennt das Land zu durchwandern. Eben in dem Moment kommt einer von Theklas treuen Sklaven (Der Türsteher, der sie aus dem Haus gelassen hat), der bei ihr bleiben will, mit einem Maultier dazu. Und dann endet das lange Eops mit den drei Versen:

 

Schweigend bestieg sie das Tier und zurück in die Straße der Gräber
Lenkte der Sklav. So ritt sie dem leuchtenden Morgen entgegen
Mit taghellem Gemüt, und hinter ihr blieben die Schatten.

 

Statt des Cowboys und des Sonnenuntergangs die Heilige und der Sonnenaufgang. Hach.

Was bleibt nach neun langen Gesängen? Zum einen ein Einhören in Heyses Hexameter, die ihren eigenen Klang haben, dem nachzulauschen durchaus sinnvoll ist; und dann sicherlich auch die inhaltliche Erfahrung, eine Heiligenlegende als Epos erzählt zu bekommen. Die habe ich gern gemacht – wahr ist aber auch, dass der Text im 21. Jahrhundert erst einmal fremd wirkt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert