Erzählverse: Der Blankvers (32)

Ein Gegenstück zu den Blankversen von Henry von Heiseler, vorgestellt im gestrigen Eintrag, sind die Blankverse dieses Eintrags, entnommen aus Karl Kraus‘ „Nach dreißig Jahren“ (ein langes Stück):

 

Nicht Schranken sind errichtet, nur ein Maß.
Und nicht von mir, bloß durch mich; weil ich bin,
nicht weil ich es bestimme. Solchen Wahns
verwäge und vermesse ich mich nicht
und maße mir nicht an, das Maß zu geben,
der längst erfuhr, wie gegen seinen Willen
die Welt läuft und wie seines Wirkens Spur
unkennbar wird im Fortschritt dieser Zeit.
Doch hebt die Spur sich ab vom Gegenteil,
im Negativ der Menschlichkeit bewahrt.
Vorhanden bin ich, und es hat sich vieles
an mir entschieden, da es von mir schied.
Nicht standzuhalten meiner Gegenwart
war die Bestimmung der Umgebenden,
und Rettung vor der Stimme, die sie anrief:
ein abgeredet Schweigen, das da wähnt,
ich sei nicht auf der Welt. Wie Angst im Wald,
sich Mut zu machen, schreit vor einem Feind,
der nur vermutet ist, so schweigen sie
laut auf vor dem, der immer gegenwärtig
und spürbar wirkend ihre Zeit durchquerte.

 

– Wie von Heiselers Verse voll sind von Gegenständlichkeit, so sind Kraus‘ Verse frei davon. Gänzlich frei! Tatsächlich ist ein Allerweltswort wie „Wald“ das gegenständlichste, was zu finden ist … Dadurch spielt sich für den Leser das Erfassen des Inhalts fast vollständig auf der Verstandes-Ebene ab, was ich ein wenig mühselig finde. Das soll nicht heißen, ein Gedicht dürfe nicht gedanklich oder philosophisch wirken; aber hier kommt ja auch noch dazu, dass Kraus den Satz dem Vers gegenüber bevorteilt, oft bis zur völligen Auslöschung, bis zur Unkenntlichkeit des Verses; und das ist dann doch etwas zuviel Prosanähe und etwas zu wenig an Gedichthaftem – zumindest für meinen Geschmack …

Und nicht von mir, bloß durch mich; weil ich bin,

Dieser Vers zeigt sehr deutlich, was ich meine: Nur Einsilber, nur Bauwörter; der Vers gewinnt keine Bewegungslinie, weil keine Silben wirklich herausgehoben zu werden verdienen?! Eine stumme, eine Gedanken-Übung eben.

ich sei nicht auf der Welt. Wie Angst im Wald,

Auch wenn es nur „Welt“, „Angst“ und „Wald“ sind: Auch dieser Vers besteht nur aus Einsilbern, aber die drei „Sinnwörter“ geben ihm immerhin einen gewissen Halt!

Warum ist das Publikum so frech gegen die Literatur? Weil es die Sprache beherrscht. Die Leute würden sich ganz ebenso gegen die anderen Künste vorwagen, wenn es ein Verständigungsmittel wäre, sich anzusingen, sich mit Farbe zu beschmieren oder mit Gips zu bewerfen.

Die Kraus’sche Prosa mag ich, im Gegensatz zu seinen Versen ; die vielen Aphorismen sind herrlich, eigentlich: alle.

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