Lutz Walther (Hrsg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon.
Das hat nun im eigentlichen wenig mit Versen zu tun; trotzdem ist es ein gelungener und hilfreicher Band, in dem verschiedene Verfasser etwa fünf Seiten umfassende Texte zu den einzelnen Mythen schreiben. Diese Mythen werden erst kurz vorgestellt, dann wird ihr Weg von der Antike an bis in die europäische Jetzt-Zeit vorgestellt, mit Schwerpunkt auf der deutschen Literatur.
Dichter aller Zeiten haben auf diese antiken Geschichten zurückgegriffen, und ich denke, jeder, der heute Texte schreibt, tut gut daran, wenigstens eine Grundvorstellung davon zu haben, was dabei geschaffen worden ist?!
Verse begegnen dem Nachforschenden dabei unausweichlich. Ein Beispiel, auf das in dem 2003 bei Reclam erschienenen, 250 Seiten starken Band eingegangen wird, ist „Die sterbende Muse“ von Conrad Ferdinand Meyer – ich stelle einige Verse aus der Mitte des Gedichts vor:
Medusen träumt, dass einen Kranz sie winde,
Der Menschen schöner Liebling, der sie war,
Bevor die Stirn der Göttin Angebinde
Verschattet ihr mit wirrem Schlangenhaar.
Mit den Gespielen glaubt sie noch zu wandern
Und spendet ihnen lockenschüttelnd Grüße,
In blüh’ndem Reigen regt sie mit den Andern
Die freudehellen, die beschwingten Füße,
Ihr Antlitz hat vergessen, daß es tödte,
Es glaubt, es glaubt an die barmherz’ge Lüge
Des Traums. Es lauscht dem Hauch der Hirtenflöte,
Der weich melodisch zieht durch seine Züge.
Es lächelt still, von schwerem Bann befreit,
In unverlorner erster Lieblichkeit.
Dazu schreibt im entsprechenden Eintrag auf Seite 141 Kai Merten:
Zentrales Rezeptionsbeispiel dieser Zeit für die deutschsprachige Literatur ist C. F. Meyers Die sterbende Meduse. Das um 1878 entstandene Gedicht ist insofern bemerkenswert, als es den Perspektivwechsel, den Shelly andeutet, erweitert und Medusas innere Welt noch stärker in den Blick nimmt. Medusa erinnert sich in einem Traum kurz vor ihrer Enthauptung, dass sie vor ihrer Verfluchung durch Athene der Liebling der Menschen war. Der Tod bedeutet eine Erlösung für sie, da sie dadurch in diese Zeit zurückkehren kann. Meyer verbindet das Pathos weiblicher Opferung des späten 19. Jahrhunderts mit einer umfangreichen und originellen Erkundung der Perspektive einer schuldlos Verfluchten. Meyers Sensibilität für die „Stimme“ der Medusa macht ihn dabei zu einem Vorläufer feministischer Aneignungen des Mythos im 20. Jahrhundert.
So angenehm wissensvermittelnd liest sich eigentlich der ganze Band, und wer ihn in die Hand nimmt, macht sicherlich nichts falsch!