Der Knittelvers, wie man ihn heute im allgemeinen im Ohr hat, ist noch gar nicht so alt – es ist der Knittelvers Goethes, Schillers, dann Fontanes …
Eigentlich ist der Vers aber schon viel älter; er verkam nur immer mehr, bis er schließlich durch die sich durchsetzenden Ansichten Martin Opitz‘ im 17. Jahrhundert für eine Weile ganz aus der „Hochdichtung“ verschwand; Mitte des 18. Jahrhunderts war er dann wieder da, wenn auch in leicht abgewandelter Form.
Wie haben diese älteren Verse geklungen? Dafür kann man in „Des Knaben Wunderhorn“, einer Sammlung alter deutscher Lieder, herausgegeben von Achim von Armin und Clemens Brentano; zum ersten Mal erscheinen 1805. Da sollte auch heute noch jeder reinschauen, eigentlich; eine wahre Fundgrube!
Die folgenden Verse stammen aus „Moritz von Sachsen“, als Quelle geben Arnim und Brentano „Die Geschichten und ritterlichen Taten Moritz Herzog zu Sachsen, durch Leonhardt Reutter, 1553, Flugschrift“.
Inhaltlich geht es um ein unruhiges „Ich“, das schließlich in Schlaf fällt und einen Traum hat:
Da sah ich erst ein traurig Heer,
Wenig Volk, viel Fähnlein dabei,
Die waren von Farben mancherlei,
Waren zerrissen und zerplundert,
In meinem Traume es mich sehr wundert,
Was doch das all bedeuten tät?
Funfzehn schwarze Fähnlein man hätt,
Die trug man um ein Leich herum,
Ich erschrak sehr, und sah mich um,
Da sah ich ein Haufen in schwarzem Kleid,
Die trugen allesamt groß Leid,
Und wollten auch mitgehn zu Grab.
Nach der Leich, da ritt ein Knab,
Der hatt einen schwarzen Harnisch an,
Däucht mich es war ein Edelmann,
In der Hand hatt‘ er ein bloßes Schwert,
Die Spitze kehrt‘ er zu der Erd,
Und saß so gewaltig verdrossen,
Auch war der Harnisch durchschossen,
Hinten unter dem Gürtel ’nein,
Ich dacht, wes‘ mag die Leiche sein?
Es ist die Leiche des besagten Moritz von Sachsen, der am 11. Juli 1553 an einer in der Schlacht erhaltenen Wunde gestorben war. „Tagesaktuell“, dieses Flugblatt. Sozusagen.
Die Verse klingen zwar deutlich anders als die der späteren Verfasser, haben aber doch die kennzeichnenden Eigenschaften aller Knittelverse; im besonderen die Beweglichkeit der vier betonten und herausgehobenen Silben. Ein Beispielvers: „Ich erschrak sehr, und sah mich um,“ Möglich wäre diese Anordnung:
Ich erschrak sehr, und sah mich um,
– Aber so ganz gerecht scheint sie dem Inhalt des Verses nicht zu werden?! Also doch eher so:
Ich erschrak sehr, und sah mich um,
Wenn das auch einem Ohr, das eher an das „Auf und Ab“ gewöhnt ist, etwas seltsam klingen mag. Aber beim Knittelvers liegt man eben eher richtig, wenn man sich, so weit es geht, am Sinn ausrichtet beim Ermitteln der Bewegungslinie!
Bemerkenswert noch dieses Vers- und Reimpaar:
Und saß so gewaltig verdrossen,
Auch war der Harnisch durchschossen,
– Da wird es schwierig, vier betonte Silben unterzubringen?! Im ersten ginge es noch (neben den drei sicheren Betonungen das „so“), aber im zweiten? Hm … Dann wohl doch besser als Dreiheber lesen; ausnahmsweise.