Erzählverse: Der Blankvers (37)

Eine der für mich bemerkenswertesten Eigenschaften des Blankverses ist seine uneingeschränkte Tauglichkeit für das Gelegenheits- oder Anlassgedicht. Gleichgültig, ob es die Geburt eines Thronfolgers zu feiern gilt, die Eröffnung eines Theaters, den zweihundersten Geburtstag eines Tonsetzers, was auch immer: Der Blankvers begleitet es, und er sieht dabei gut aus – vernehmbar gestaltete Sprache, die aber doch nicht dem, worum es eigentlich geht, im Weg steht. Ein Beispiel von Alfred von Berger, der Anfang eines längeren Textes:

 

Festgedicht
Zur Feier der Grundsteinlegung des Raimund-Denkmals am 1. Juni 1890

Ein alter Lindenbaum, in dessen Schatten
Die Vögel singen und die Arbeit rastet,
Die Kinder spielen und die Liebe flüstert -,
Das wär das rechte Denkmal für den Raimund!
Denn einem Baum gleich sog er seine Kraft
Mit tausend Wurzeln aus der Heimaterde,
Und, einem Baum gleich, bot er einst dem Volk
Mit seinen tausend Ästen Schirm und Schatten;
Er war ein Stück der Scholle, die ihn nährte,
Ein Teil des Volkes, dessen Kind er war,
Und Volk und Heimat hat in ihm gedichtet.

 
Nun war Alfred von Berger kein großer Dichter, aber einen sicheren Vers schrieb er schon; und das reicht schon im Falle dieser Blankverse, um das inhaltlich sich arg auf bekanntes stützende formal aus der Alltagssprache herauszunehmen und zu etwas besonderem zu machen; etwas, bei dem man hinhört.

„Gesprochen von Josef Lewinsky“, steht noch vor dem ersten Vers in der von Berger-Ausgabe … Auch ein Hinweis auf die Anlass-Gebundenheit des Textes!? (Von Lewinsky gibt es schon Tonaufnahmen, zum Beispiel Die drei Zigeuner aus dem Jahre 1901; da wird man schon neugierig, wie die obigen Blankverse bei ihm geklungen haben …)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert