Erzählformen: Das Distichon (10)

Josef Weinheber war ein äußerst formbewusster Dichter; das merkt man seinen Distichen sehr deutlich an. Zum Beispiel denen aus „Vom Gedicht“, zu finden im zweiten Band von Weinhebers sämtlichen Werken, erschienen 1954 bei Müller; dort zu finden auf Seite 581.

 

… aber das Höchste zu tun, was Menschen zu wirken erlaubt ist,
auszusprechen sich selbst, schön, in der reinen Gestalt:
Lebe die Sprache dafür!Und kommst du in fürchtiger Andacht
näher dem Wesen, dem Satz, füge sich Rhythmus und Reim!
Fühl: Schon pochts in den Fingern. Es pulst das Blut dieser Erde,
doch der Geist überhöhts in die beseelte Natur.
So befiehlt es die Kunst. Noch untergründig und ferne,
doch der Sterne gewiss, naht, was geheim: Das Gedicht.
Inniger ruft es dich auf, das Menschliche menschlich zu schauen,
und das getrennte Geschlecht eint es in himmlischer Luft.
Fühl im Gleichklang des Reims die nie erhörte Umarmung,
Schoß an Schoß die Gewalt neu sich gebärender Welt!
Denn es ist das Gedicht gewaltig, doch keimhaft am Anfang,
und Äonen bedarf’s, eh es zum Gleichnisse reift.
Königlich lebt es alsdann. Ihm danken verlorene Menschen,
Sonst durch Welten getrennt, Wiedersehn, Eintracht, Bestehn.
Lässt dich das Melos nicht schlafen, Tonfall verklärtester Liebe,
träum dir die Schönste herbei, leg ihr dein Glück auf das Haupt!
Leg ihr zu Füßen dein Herz, damit gesammelt verbliebe
Ur-Glanz, den schrecklich die Zeit, ach, unsern Herzen geraubt.

 

Die „drei Punkte“ bedeuten nicht, dass da schon etwas gestanden hat, das ich weggelassen habe; so geht der Text bei Weinheber los.

Das erste Distichon habe ich schon immer gemocht – es könnte auch als einzelnes Epigramm stehen!

Das ist kein Zufall: Jedes der zehn Distichen ist in sich abgeschlossen, es gibt keinen einzigen Zeilensprung! Dadurch  bekommt der ganze Text etwas festes, ruhendes … Etwas schweres, auch, was durch die vielen „großen“ Worte noch verstärkt wird – erst recht, wenn sie in einer Aufzählung einander folgen: „Wiedersehn, Eintracht, Besten“.  Insgesamt aber schon schöne Verse!

Inhaltlich fällt auf, wie selbstverständlich Weinheber mit Hilfe von Distichen, die ja niemals nie nicht gereimt werden, über den Reim redet; das klingt ein wenig eigenartig, erst recht, da sich zum Schluss, in den letzten beiden Distichen, plötzlich doch Hexameter und Pentameter reimen! Na, ist ja auch ein gutes Beispiel, warum das nicht geht, eigentlich: Entweder baut ein Vers auf der Bewegung auf, dann achtet das Ohr auf die Bewegungslinie und damit den ganzen Vers; oder auf dem Reim, dann gilt die Aufmerksamkeit dem Versende.

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