Wolfgang Binder: Hölderlin-Aufsätze
Erschienen 1970 bei Fischer, versammelt dieser Band „während zwanzig Jahren entstandene“ Aufsätze Binders. Die meisten haben nichts mit den vom Verserzähler verhandelten Dingen zu tun; lesen kann man sie aber trotzdem, mehr über Hölderlin zu wissen ist immer gut!
Die erste „Abhandlung“ zum Beispiel trägt den Titel „Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus“, und dort findet sich dieses Hölderlin-Zitat aus dem „Hyperion“ mit anschließender Erläuterung (S. 12):
„Die Natur war Priesterin und der Mensch ihr Gott, und alles Leben in ihr und jede Gestalt und jeder Ton von ihr nur Ein begeistertes Echo des Herrlichen, dem sie gehörte.“
Ein zweifach aufschlussreicher Satz. Denn die idealistische Umkehrung der Wirklichkeit – die Natur ist das Echo des Menschen, nicht dieser das Echo der Natur – und die Stilisierung der Sprache zu melodischer, fast rhythmischer, gleichsam durchsichtiger und dennoch genauer Form bedingen einander.
Hm. „Fast“ rhythmisch?! Ich weiß nicht, aus welchem Grund Hölderlin das „Ein“ mitten im Satz großgeschrieben haben wollte – zusätzliche Betonung? Würde passen … Jedenfalls & eigenartigerweise beginnt genau da ein Hexameter, der bis zum Schluss des Satzes geht:
Ein be- / geistertes / Echo || des / Herrlichen, / dem sie ge- / hörte.
… Und ein Hexameter ist ja nicht nur „fast“ rhythmisch; sondern sehr rhythmisch! (Wobei die Frage bleibt, ob Hölderlin da einen Hexameter im Kopf hatte … Fast alle seiner in Gedichten erscheinenden Hexameter haben die Zäsur nach einer betonten Silbe; der hier nicht!)
Äh … Ja. Das sind Dinge, da wird das Ohr aufmerksam; aber vielleicht entsteht so auch ein Eindruck, wie Binder schreibt.
Der Grund, aus dem ich hier auf diesen Band zu sprechen komme, ist allerdings der zweite Text: „Hölderlins Odenstrophe“. Da ist zum einen zu erfahren, wie die „alkäische Odenstrophe“ und die „sklepiadeische Odenstrophe“ – wenn Hölderlin Oden geschrieben hat, dann fast ausschließlich in diesen beiden Strophen – aussehen, wie ihr inneres Gefüge gestaltet ist, welche Inhalte mit ihnen besser, welche schlechter vermittelbar sind; und dann, wie sich all das in Hölderlins Gedichten wiederfindet. Es sind nur 30 Seiten, die aber trotzdem eine Fülle an Erkenntnissen bieten!
Binder führt zum Beispiel (S. 61) eine asklepiadeische Strophe an, die Hölderlin später in eine alkäische Strophe umgeschrieben hat:
Wohl ist eng begrenzt unsere Lebenszeit,
Unserer Jahre Zahl sehen und zählen wir,
Doch die Jahre der Völker,
Sah ein sterbliches Auge sie?
Wie eng begrenzt ist unsere Tageszeit,
Du warst und sahst und stauntest, schon Abend ists,
Nun schlafe, wo unendlich ferne
Ziehen vorüber der Völker Jahre.
Die askl. Form erschöpft den Gedanken in ausführlicher, begrifflicher Antithese, der die grammatische Form entspricht („Wohl“ – „Doch“). Die alk. benützt ihn nur als Auftakt im ersten Vers und entwickelt daraus sogleich das indivuduelle Beispiel in der Zeit.
– Sagt Binder (immer noch S. 61), und führt dann aus, aus welchen Gründen ihm das kein Zufall, sondern im Wesen der jeweiligen Strophe begründet zu sein scheint.
Alles sehr anregend und zum Nachlesen empfohlen!