„Der Reim ist immer ein Ende“, hat Josef Weinheber einmal festgestellt. Und das nirgends mehr als beim Reimpaar: Durch den Gleichklang entsteht ein zwei Verse großer, abgeschlossener Raum, wirkungsmächtig und eine Entscheidung fordernd vom Versemacher: fügt er sich diesem Abschluss, arbeitet er dagegen an, findet er ein ganz anderes Verhältnis?! Ein Verhältnis haben aber muss er, sonst werden seine Verspaare nicht lebendig.
Wie groß diese abschließende Wirkung ist, lässt sich vielleicht am Beispiel von vierzeiligen Strophen zeigen, die den iambischen Vierheber nutzen.
Er nickt mit seinem großen Haupt
Am Feuer eines fremden Herds:
Im Traum erblickt er einen Geist,
Der seines Purpurs Spange löst.
Die erste Strophe von Conrad Ferdinand Meyers „Napoleon im Kreml“. Die Verse sind ungereimt, der vom Satz zu füllende Raum ist daher die ganze Strophe, und die Gestaltung dieses Raums ist dem Satz überlassen – die stärkste Pause liegt nach dem zweiten Vers und teilt die Strophe mehr oder weniger hörbar in zwei Hälften.
Der Himmel hängt, wie Blei so schwer,
Dicht auf dem wildempörten Meer;
Ein englisch Segel, fast die Quer,
Schießt wie ein Pfeil darüber her.
Das ist die erste Strophe von Gottfried Kellers „Das Meer“. Diesmal sind die Verse gereimt, aber alle vier Verse haben den gleichen Reim; es ändert sich nichts wesentliches gegenüber Meyers Strophe, wieder sorgt der Satz für einen gliedernden Einschnitt in der Strophenhälfte.
Ich bin der Doktor Eisenbart,
Kurier die Leut nach meiner Art;
Kann machen, dass die Blinden gehn,
Und dass die Lahmen wieder sehn.
Der berühmte „Doktor Eisenbart“ nutzt nun zwei Reime, in Reimpaaren angeordnet; und das ändert auf einen Schlag alles! Jetzt gliedern die Reime die Strophe in zwei Hälften, und zwar viel stärker, als es bei Meyer und Keller der Satz tat; ihr Einfluss ist so groß, dass die Strophe auseinanderbricht und als Einheit kaum noch erkennbar ist – man könnte den Text auch als zwei Strophen setzen, von denen jede aus einem Reimpaar besteht!
Wie aber die Strophe trotzdem als Einheit kenntlich machen? „Doktor Eisenbart“ schafft das, indem bei der folgenden, langen Liste seiner „Behandlungserfolge“ immer dasselbe Grundgerüst verwendet wird: „Wo, wer, wie (zu Tode gekommen)?“ Ein Beispiel:
Zu Leipzig nahm ich einem Weib
Zehn Fuder Steine aus dem Leib;
Der letzte war ihr Leichenstein,
Jetzt wird sie wohl kurieret sein.
Wenn man als Versemacher diese Strophe ernst nimmt, muss man also sehr arbeiten, um die beiden Reimpaar-Hälften inhaltlich so eng aufeinander zu beziehen, dass sie als Einheit wahrgenommen werden können. Bevor die Gedichtewelt stumm wurde, hatte diese Strophe allerdings ein langes und erfülltes Dasein als Liedstrophe, und da hilft sicher auch die Melodie, die Stropheneinheit zu wahren. Aber sogar dann schadet es nichts, die beiden Reimpaare zu verleimen. Das wusste schon Martin Luther:
Vom Himmel hoch, da komm ich her.
Ich bring euch gute, neue Mär.
Der guten Mär bring ich so viel,
Davon ich sing’n und sagen will.
– Die dritte Zeile nimmt die zweite inhaltlich auf, und auch den (M)är-Reimklang des ersten Reimpaars?! (Und ja, es ist beinahe noch Sommer und sicher noch nicht Weihnachten. Aber es gibt im Supermarkt ja auch schon Lebkuchen.)