Das Ein-Vers-Gedicht (12)

„Die natürliche Tochter“ von Goethe ist ein eigenartiges Stück, in dem die Handelnden in verschiedenen Anordnungen herumstehen und sich in Sprichwörtern unterhalten.

– Das ist Quatsch, selbstredend. aber an manchen Stellen ist es wirklich so, zum Beispiel, wenn der Weltgeistliche anmerkt:

 

Die Trauer wird durch Trauren immer herber.

 

Das kann man als Lebensweisheit so stehen lassen. Der Herzog macht das im darauf folgenden Vers aber nicht, sondern stellt dagegen:

 

Durch Trauren wird die Trauer zum Genuss.

 

– Und der Leser kann sich aussuchen, welchem Sinnspruch er folgt …

Auch das restliche Gespräch der beiden hat noch einige dieser Sinnspruch-Blankverse zu bieten. Manche nicht ganz so aussagekräftig, zum Beispiel dieser Vers des  Weltgeistlichen:

 

Ein allgemeines Übel ist der Tod.

 

Da ist der Herzog ihm an Bedeutungsgehalt voraus, wenn er, diesmal immerhin einige Verse von der Anmerkung seines Gesprächspartners entfernt, anmerkt:

 

Das Wort verwundet leichter, als es heilt.

 

– Und das ist eine Wahrheit, die sich alle ab und an ins Gedächtnis rufen sollten. Finde ich … Einprägsam genug ausgedrückt hat sie Goethe in ihrer Blankvers-Gestalt jedenfalls – ein Vers, der ein Gedicht sein könnte.

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