Die Lindenschmidt-Strophe

Im 21. Jahrhundert mit Versen erzählen – wenn überhaupt, geht das meinem Gefühl nach eher mit ungereimten als mit gereimten Versen, und eher mit gereihten Einzel-Versen als mit in Strophen gebundenen Versen. Reimstrophen sind, so gesehen, nicht die beste Wahl … Erst recht nicht kreuzgereimte vierhebige Vierzeiler, die klingen so nach Gestern, dass es wehtut?!

Einige Strophen gibt es aber doch, denen man zutraut, dieses Kunststück zu vollbringen; eine davon ist die sogenannte „Lindenschmidt-Strophe“. „Genannt wurde die Form nach dem historischen Lied vom Räuber Lindenschmidt, das in dieser fünfzeiligen Strophe bald nach dessen Enthauptung 1490 entstand und weite Verbreitung fand“ – so Horst Joachim Frank in seinem wunderbaren „Handbuch der deutschen Strophenformen“. Wenn man so will, also eine Strophe von Vorgestern; sie war im 16. Jahrhundert sehr beliebt, wurde aber von den Barockdichtern kaum verwendet und blieb auch danach weitgehend vergessen.

Wie aber sieht sie aus? So:

x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X / x .. b
x X / x X / x X / x X
x X / x X / x X / x .. b

– Also ein betont schließendes Reimpaar aus iambischen Vierhebern, denen ein unbetont schließender iambischer Dreiheber folgt, der nach Einschub eines weiteren, diesmal reimlosen Vierhebers im fünften Vers von seinem Reimpartner ergänzt wird.

Als Beispiel nehme ich einen eigenen, allerdings ein klein wenig albernen Text:

 

Die Katze sitzt im Hühnerstall.
Warum? Wer weiß; auf keinen Fall
Will sie dort Eier legen –
Vielleicht sucht sie nach einer Maus,
Vielleicht nur Schutz vorm Regen …

 

– Trotzdem zeigt sich schon, die Lindenschmidt-Strophe kann auch als Einzelstrophe stehen und dabei epigrammatisch oder eben, auf kleinstem Raum, erzählend gestaltet sein?! Dann wirkt sie fast wie ein Madrigal: unterschiedliche Zahl der Hebungen in den Versen, unterschiedliche Reimanordnungen, eine Waise (also ein ungereimter Vers) …

Aber üblicherweise hat ein Text mehrere Strophen. Ein Erzähltext aus dem 17. Jahrhundert ist das „Lied vom Schlaraffenland“:

 

Nun höret zu und schweiget still,
Was ich euch Wunders sagen will
Von einem guten Lande;
Es bliebe mancher nicht daheim,
Könnt´ er dahin gelangen.

Die Gegend heißt Schlaraffenland,
Ist faulen Leuten wohl bekannt,
Liegt hinterm Zuckerberge;
Und willst du in das Land hinein,
Friss dich hindurch die Zwerche.

Der Berg ist schier drei Meilen lang,
Doch beiß dich durch und tu dir Zwang:
Gelingt dir´s ohne Schaden,
So findest du die Häuser all
Gedeckt mit Eierfladen.

 

– Und immer so weiter noch ein gutes Dutzend Strophen lang! (Zwerche, Zwerch: „Querrichtung im Gegensatz zur Längsrichtung“, sagt der Grimm.)

Aber auch das geistliche Lied hat sich dieser Strophe bedient – Paul Gerhardt dichtete etwa:

 

Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun
Und Werk in deinem Willen ruh’n,
Von dir kommt Glück und Segen;
Was du regierst, das geht und steht
Auf rechten, guten Wegen.

 

– Das ist die erste der 14 Strophen des Liedes.

Heute ist die Lindenschmidt-Strophe gründlich vergessen. Ein bekanntes Studentenlied verwendet sie allerdings doch: „Es steht ein Wirtshaus an der Lahn“ – welche der unzähligen Strophen da nun wirklich zugehören, habe ich nie verstanden … Eine immerhin mögliche:

 

Frau Wirtin hat auch eine Magd,
Die hat ein tolles Spiel gewagt:
Sie tät sich unterfangen
Und bracht‘ den Flöh’n das Tanzen bei;
Hei, wie die Tierchen sprangen!

 

Davon ausgehend und dementsprechend auch nach der Lindenschmidt-Strophe gebaut sind die „Wirtinnen-Verse“ mit ihren oft ziemlich … unanständigen Inhalten!

Bei all den Liedern kann es nicht schaden, zumindest für dieses mal einen Link zu setzen – eine nette Fassung der Comedian Harmonists, aus den 30ern. Man kann aber auch andere finden!

Eine wandlungsfähige Strophe also, die dem Ohr nicht den immer und immer wieder gehörten Tonfall der meisten vierzeiligen Strophen vorklingelt; von daher einen Versuch wert – ich kann aus eigener Erfahrung jedenfalls sagen: es lohnt sich, die Lindenschmidt-Strophe ist eine anpassungsfähige Form, die hinhören lässt; und vor allem macht es Spaß, sie zu schreiben!

An den Schluss stelle ich noch mal etwas eigenes – da es um das Erzählen mit Versen geht, eine in meinem „Königreich von Sede“ angesiedelte Strophe:

 

Prinzessin Sofarosa denkt,
Derweil sie geht, und also lenkt
Sie ihre holden Schritte
Zu keinem Ziel; sie zieht im Kreis
Um ihres Denkens Mitte.

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