Erzählverse: Der Hexameter (74)

Paul Heyses „Hexameter-Brief“ (2)

Weiter geht es mit den Versen 23 – 52:

 

Ja, nicht darf ich es leugnen, o Freund: ich fühle mich schuldig,
Doch weit anderer Sünden. Mit meinen Hexametern wär‘ ich
Selbst wohl besser zufrieden, – dafern sie schlechter gerieten.
Hab‘ ich doch einst mit saurem Bemühn die geduldige Thekla
Sanft zu befreien gesucht vom lähmenden Zwang der Korrektheit,
Froh um jeden bequemeren Fuß, auf welchem die Rede
Mit treuherzig behaglichem Gang hinschlenderte, nicht mehr
Künstlich die Zehen gespreizt und die römischen Pas nachzirkelnd.
Manches geriet mir zu Dank, doch anderes fügte sich nimmer.
Denn was Hänschen nicht lernt, – vielmehr, was Hänschen gelernt hat,
Kann mit steiferen Gliedern ein Hans nicht wieder verlernen.
Warum ward uns Knaben die Platensche Zucht auf der Schulbank
Fest in die Ohren geschmiedet und ein harmloser Trochäus,
Ein zweisilbiges Wort, als doppelte Kürze gemessen,
Ein daktylisches „Vaterland“ gar mit röterer Tinte,
Als ein Ut mit dem Indikativ, am Rande gebrandmarkt!
Damals konntst du an mir viel Ehr‘ und Freuden erleben.
Doch mir ward auf immer im Schnürleib klassischer Hoffahrt
Meines Hexameters fröhlicher Wuchs unheilbar zerrüttet.
Sah ich doch achselzuckend herab selbst auf den gewalt’gen,
Den schon früh mit der Glut des freiauflodernden Herzens
Ich vor allen verehrt. Nur zum Hexameter, wähnt‘ ich,
Hab‘ ihm ein feindlich Geschick den gültigen Stempel verweigert,
Dass er falsch ihn geprägt und sein gediegenes Gold nun
Leider in solcher Gestalt nicht Vollwert habe dem Kenner.
O ich pfuschender Knabe! Zu spät erst fielen die Schuppen
Mir vom Aug‘; ich erkannte, wie blind an ihm ich gefrevelt,
Wie sein Genius ihn auch hier weit sichrer geleitet
Mit nur tastendem Schritt, als unsern prosodischen Grafen
Seine Gelehrsamkeit und alexandrinischer Kunsttrieb.

 

Mit treuherzig: „Ein geschleifter Spondeus“ – einer der Wege, auf dem die antikisierenden Hexameteristen den antiken Spondeus nachbilden wollten, indem sie zwei genau gleich schwere Silben erzeugen. Der Grundgedanke: Eine eigentlich „leichte“ Silbe“ – hier das „Mit“ – wird auf die Hebungs-Stelle gesetzt und damit verstärkt, eine eigentlich „schwere Silbe“ – hier das „-treu-“ wird auf die Senkungs-Stelle gesetzt und damit geschwächt; dadurch sind am Ende beide Silben gleich schwer und damit ein Spondeus.

Mit treu- / herzig be- / haglichem / Gang || hin- / schlenderte, / nicht mehr

/ v v / v v / || — / — v  v / — v

– Mit „Längen“ () und „Kürzen“ (v) dargestellt. Man sieht: Der vierte Fuß, der auch die Zäsur aufnimmt, ist auch so ein „geschleifter Spondeus“! An dieser Stelle geht das ganz gut, am Versanfang ist das einem heutigen Ohr kaum noch zu vermitteln; es braucht viel Übung, um daraus im Vortrag etwas zu machen? Vielleicht fährt man am besten, liest man die Stelle einfach als „versetzte Betonung“:

Mit treu– / herzig be- / …

Heyse hat in allen seinen Hexameter-Texten solche Spondeen; es lohnt sich, auf sie zu achten und ihnen nachzuhören!

zweisilbiges Wort: Inwieweit man ein zweisilbiges Wort als zwei unbetonte Silben betrachten darf – „als doppelte Kürze gemessen“ – ist eine offene Frage geblieben bis heute. Manche Hexametristen meiden diese Möglichkeit ganz, manche nutzen sie ausgiebig, und manche lassen es auf die Umstände ankommen. Hier beim Verserzähler tauchte diese Frage gleichfalls schon auf, siehe Plektrons Kommentar zu Stillstand.

Ein … ein … ein: In diesen Versen …

Fest in die Ohren geschmiedet und ein harmloser Trochäus,
Ein zweisilbiges Wort, als doppelte Kürze gemessen,
Ein daktylisches „Vaterland“ gar mit röterer Tinte,

… erscheint „ein“ als Zahlwort, nicht als unbestimmter Artikel; und als solches ist es durchaus „hebungsfähig“; oder eben ein hinnehmbarer Teil eines „geschleiften Spondeus“, wodurch die vom Sinn her gegebene Betonung der „ein“ auch verstechnisch umgesetzt wird. Wieder „lang-kurz“ dargestellt:

v v / v v / v || v / / v v / v
/ v v / || v / v v / v v / v
— v / — v v / — v / — || v v  / — v v / — v

… Wobei Heyse „Vaterland“ nun gerade nicht daktylisch gebraucht, sondern sowohl „Va-“ als auch „-land“ auf die Hebungsstelle setzt. Wie so oft: Auch hier haben  die verschiedenen Hexametristen zu verschiedenen Ansichten gefunden. (Aber eine bewusste Ansicht hatte jeder!)

am Rande gebrandmarkt: Im 19. Jahrhundert musste man in der Schule und Universität nicht nur Latein sprechen und schreiben; sondern auch Hexameter zu Papier bringen. Lange ist’s her!

im Schnürleib klassischer Hoffahrt: „im Korsett klassischen Hochmuts / Dünkels“.

Sah ich doch achselzuckend: Wen Heyse hier meint, weiß ich nicht. Ich tippe auf Goethe?! Der hat sich jedenfalls von den Theoretikern manches anhören müssen bezüglich seiner Hexameter, zu Lebzeiten und im Tode; vieles klang so ähnlich wie Heyse’s Ausführungen, nur oft noch schäbiger. So schreibt M. W. Götzinger in seinem Buch „Die deutsche Sprache und ihre Literatur“ (1839) zum Beispiel:

Es gereicht in der Tat Goethen zum Vorwurf, dass er so gar schlechte Hexameter geschaffen. Entweder konnte er keine bessern machen, und dann hätte er es billiger ganz gelassen; oder er vermochte es, und dann hätte er mehr Fleiß darauf wenden sollen.

Na, schönen Dank auch … Aber insgesamt sind hier mit den Jahren, wie bei Heyse, viele „Schuppen vom Aug gefallen“, und heute zählen Goethes Hexameter zu den besten, die es im Deutschen gibt.

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