Erzählformen: Die alkäische Strophe (2)

Wie im vorigen Vortrag schon angedeutet: Strophen sind mehr als eine Ansammlung von betonten und unbetonten Silben. Jede von ihnen hat ganz bestimmte Eigenschaften, die zusammen ihr Wesen ausmachen.

Über die alkäische Strophe hat Josef Weinheber zum Beispiel gesagt:

„Keine andere antike Strophe zeichnet rhythmisch so unüberbietbar die Spannungen und Entladungen des Rhetorisch-Polemischen nach. Keine ermöglicht eine solche Mannigfaltigkeit, Farbigkeit und Größe des Satzes. Der Wechsel der Rhythmen macht diese Strophe zu einer eigenwilligen und streitbaren. Das Auf und Ab der Schlacht ist in ihr, und die Lust am Kampf.“

(Sämtliche Werke, Band 4, Müller 1954, Seite 247)

Das mag nun zutreffen oder nicht; aber es ist jedenfalls die Beschreibung einer ganz eigenen Form, eine Wesens-Bestimmung?! An einer solchen haben sich auch andere versucht, oft mit Bezug auf die verwendeten Verse. Ich führe noch drei weitere an; es lohnt sich wahrscheinlich, beim Lesen das im vorigen Beitrag gezeigte Silbenschema im Kopf oder zumindest vor Augen zu haben.

„Das Wesen dieser kunstvoll gebauten Strophe liegt in dem Widerspiel ihrer Bewegung. Diese ist zunächst und zumeist iambisch: ein gleichmäßiges Schreiten. So beginnt der erste Vers mit einem Auftakt und regelmäßig alternierend. Die Zäsur in der Versmitte lässt diese Bewegung stocken, doch der folgende Daktylus beschleunigt sie wieder. Der zweite Vers wiederholt dieses mutvolle Spiel in respondierender Parallelität. Das Thema ist damit genannt. Jetzt gewinnt die Bewegung Stetigkeit im iambischen Gleichmaß des zäsurfreien dritten Verses. Sein unbetonter Schluss deutet auf Weiterführung. Doch nun folgt in rhythmischer Gegenläufigkeit der auftaktlos einsetzende vierte Vers, dessen Doppelsenkungen die Bewegung nochmals deutlich beschleunigen, bis der regelmäßige Wechsel der letzten Hebungen und Senkungen ein Ausschwingen ermöglicht. Daktylisch beginnend und iambisch endend, zeigt der Schlussvers die Figur der Anfangsverse in der Umkehrung. Die Strophe ist eine dynamische, gerundete Form.“
(Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen)

„Die alkäische Strophe ist mit hoher Kunst gebildet. Die beiden ersten Verse sind steigend-fallend, und zwar derart, dass das Gewicht des verses sich auf das Versende verlegt. Der dritte Vers ist ruhig steigend und ausgeglichen, ein Übergang zum vierten, der von Anfang an schnell fällt und wie ein Bach niedergeht. Den beiden elfsibigen Anfangsversen folgen ein neunsilbiger und ein zehnsilbiger Vers. Die Gewichtsverteilung ist kunstvoll; man achte darauf, wie die beiden Daktylen am Schluss der beiden ersten Verse und die beiden am Anfang des vierten sich auswiegen. Der dritte Vers ist der langsamste; er tut viel, um den schnellen Fall des vierten vorzubereiten. So ist hier alles aufeinander bezogen, alles in Zusammenwirkung und Verbindung.“
(Jünger, Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht)

„In der alkäischen Strophe treffen an den Vers- und Kolongrenzen immer Hebung und Senkung zusammen, das heißt, das rhythmische Auf und Ab wird niemals unterbrochen, die Bewegung läuft, wenn nicht der Satz von sich aus einen Einschnitt bildet, bruchlos weiter. […] In der alkäischen Strophe sind jeweils die ersten Teile der Stollen und des Abgesangs iambisch gebaut, sie steigen; die zweiten fallen. Die Bewegungen gleiten fließend ineinander über. Die Strophe atmet, oder mit einem anderen Bild, sie hebt und senkt sich dreimal, das dritte Mal in einer doppelt so breiten Welle wie zuvor, wie die Dünung des Meeres. […] Da im alkäischen Maß die Vers- und Kolongrenzen nicht eigens markiert sind, ergibt sich die Gliederung nur aus dem Wechsel von Steigen und Fallen. Nur dieser Wechsel wird gefühlt. Jedes Kolon bestimmt sich in seinem Charakter aus seiner Mitte, denn nur hier ist eindeutige Bewegung (Steigen oder Fallen), die Enden sind unbestimmter Übergang, rundes Hinübergleiten in die umgekehrte Bewegung, oder, wenn man so will, ein sanftes Anhalten, ein momentanes Ruhen auf der Scheitelhöhe des Bogens. Dieses Gleiten […] verleiht der alkäischen Strophe etwas elementares, naturhaftes, ganz im Sinne des alten Satzes ’natura non facit saltus‘, oder auch etwas seelisches im Sinne der auf und ab flutenden Seelenbewegung.“
(Binder, Hölderlins Odenstrophe)

Zum Abschluss noch eine Beispiel-Strophe – da Josef Weinheber den Eintrag begonnen hat, soll er ihn auch schließen mit der ersten Strophe einer seiner alkäischen Oden:

 

Die Tiefe stumm, die einsame Größe fremd
in Haufens Fug, im Rausch des Maschinensiegs;
und ohne Widerhall die ewge
Klag um der Dinge verlornes Anrecht –

 

(Sämtliche Werke, Band 2, Müller 1954, Seite 35)

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