Reiner Wild: Goethes klassische Lyrik.
Etwas zu Goethes Lyrik zu lesen, schadet nie; und seine klassische Lyrik ist schon darum im Blickfeld des Verserzählers, weil es sich dabei um Texte in Hexametern und Distichen handelt – also Formen, die hier im Blog ausgiebig verhandelt werden!
Reiner WIld breitet auf 300 Seiten manches Wissenswerte aus, indem er erst Goethes Weg zur klassischen Lyrik zeigt; und dann, worin sie bestand und was sie ausmachte. Ich gebe einen Abschnitt wieder, der auf die auch für heutige Versebauer wichtige Frage eingeht: Was bedeutet es, ein „antikes Maß“ zu wählen?!
„Das antike Maß markiert Distanz. Darin entspricht es Goethes italienischer Erfahrung der Antike; die Erfahrung der Fremdheit authentisch griechischer Kunstwerke und die Aufhebung dieser Fremdheit in der Verknüpfung von Natur und Kunst gehören zu den Voraussetzungen für seine produktive Aneignung der Antike. Distanz setzt das antike Versmaß aber auch zur eigenen Subjektivität (des Autors wie der Rezipienten). In seiner vorgegebenen Regelhaftigkeit ist es kein Medium des unmittelbaren Ausdrucks und taugt auch nicht dazu, den Schein solcher Unmittelbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Die antike Form signalisiert vielmehr von vorneherein den Kunstcharakter des Gestalteten; sie ist Ausdruck von Artifizialität. Insofern markiert die Verwendung des antiken Versmaßes in der klassischen Lyrik gerade auch die Distanz, welche diese von der Antike trennt. Das antike Versmaß wird in der klassischen Lyrik gleichsam ‚zitiert‘, und die von Goethe genützte Spannung zwischen antiker Metrik und deutschem Sprachfluss lässt gerade auch diesen Zitatcharakter deutlich werden. Zugleich markiert das antike Versmaß aber auch – als ein ‚fremdes‘ Maß und als Zitat – Distanz zur Gegenwart, und in solcher Distanzierung bietet es die Möglichkeit der Gestaltung autonomer Kunst, signalisiert es als Zeichen der Artifizialität die Lösung der Kunst aus ihr vorgesetzten Zwecken. Damit aber wird, vermittelt über die Form, durch die das Kunstwerk sich als eigenständiges behauptet, erneut die Gegenwart zum Thema.“ (S. 190-191)
Nun ist Goethe schon ein ganzes Weilchen tot und das Verhältnis zur Antike heute ein ganz anderes als zu seiner Zeit; aber trotzdem kann ein wenig Nachdenken darüber, was geschieht, wenn man im 21. Jahrhundert ein Distichon in die Welt entlässt, ja nicht schaden?! Und da sind Wilds Ausführungen gar kein schlechter Ausgangspunkt.
Auffallend sind auch die vielen Gedichte Goethes, die Wild vollständig wiedergibt. Das kostet einigen Platz, ist mir aber sehr angenehm! Da kommt vieles wieder ins Gedächtnis, zum Beispiel dieses Distichon aus den gemeinsam mit Friedrich Schiller verfassten „Xenien“:
Die Sicherheit
Nur das feurige Ross, das mutige, stürzt auf der Rennbahn,
Mit bedächtigem Pass schreitet der Esel daher.
Da waren zwei auf Streit aus; und Streit haben sie bekommen bei ihrem gemeinsamen Ringen um die „Klassik“…
Erschienen ist „Goethes klassische Lyrik“ 1999 im Verlag J.B. Metzler.