Erzählformen: Die alkäische Strophe (6)

Den Faden wiederaufnehmend, den ich am Ende von (5) aus der Hand gelegt habe:

Wolfgang Binder nimmt in der alkäischen Strophe drei „Wellen“ wahr, zwei kleine, die den ersten und den zweiten Vers füllen; und eine große, doppelt so breite, die den dritten und den vierten Vers füllt.

Da diese beiden Verse nur für das Auge getrennt sind, in der Bewegung aber eine Einheit, sind harte Zeilensprünge vom dritten in den vierten Vers keine Besonderheit, wie ein Blick auf Hölderlins „Ganymed“ bestätigt; vom ersten in den zweiten Vers sind sie seltener und schwächer.

Hm. Nun ist es aber auch so, dass schon der Bau der einzelnen Verse solches nahelegt?!

x X x X x | X x x X x X
x X x X x | X x x X x X
x X x X x X x X x
X x x X x x X x X x

Der dritte Vers schließt unbetont, der vierte beginnt betont; da ist es, Welle hin oder her, einfach bequem, den dritten Vers mit einem Artikel oder einer Präposition oder der Ableitungssilbe eines zweisilbigen Adjektivs zu schließen und dann den vierten Vers mit einem Substantiv oder Adjektiv zu beginnen?! Und da die im Deutschen häufig die Form „X x“ haben, gerät man hier, ohne etwas dafür zu können, in eine „fallende“ Bewegung.

Ein ähnlich harter Einschnitt zwischen eng aufeinander bezogenen Wörtern bietet sich zwischen dem ersten Vers, der betont schließt, und dem zweiten Vers, der unbetont einsetzt, dagegen nicht an!

Wohlwollend betrachtet heißt das dann, die deutsche Sprache und die Silbenverteilung der alkäischen Strophe kommen  gut miteinander zurecht – die sapphische Strophe zum Beispiel bietet da einiges mehr an Widerstand!

Was aber geschieht, wenn man sich dieser naheliegenden Füllung des Silbenbilds widersetzt und den vierten Vers nicht fallend, sondern steigend gestaltet? Das gelingt ja ohne Schwierigkeit, wird die erste Silbe als eigene Sinneinheit gewählt; der am deutlichsten steigende Vers sieht dann so aus:

X / x x X / x x X / x X X

Also vier Sinneinheiten, die letzte ein „x X X“, was meint: mit starker Nebenhebung auf der letzten Silbe. Das klingt dann in etwa so:

 

Die ersten Verse kümmern mich weiter nicht
Und ziehen hin auf ihrem gewohnten Weg,
Bis sie zum vierten Vers gelangen:
Hört, wie der steigt, ja sich kühnst emporreißt!

 

Die oben angedeutete Verteilung der Sinnabschnitte, die dem Vers einen steigenden Ausdruck geben:

Hört, / wie der steigt, / ja sich kühnst / empor-reißt!

Gar nicht so ungewöhnlich?! Ich wüsste aber im Augenblick keine Ode mit einem solchen Strophenschluss (schaue aber ab jetzt bewusst darauf) – die allermeisten alkäischen Strophen  haben keine solche, sondern eben eine fallende Schluss-Bewegung. In schwacher Form in diesem Vers, möglicherweise:

Wem / und wohin / du den Raub / verschenkt hast

– Rudolf Alexander Schröder

Vielleicht lohnt noch der Blick auf einen anderen „nicht-fallenden“ Vers aus drei Sinneinheiten:

X x x X / x x X / x X X

– Das halte ich für eine sehr schöne, starke, einprägsame Bewegungslinie! Aber auch sie kommt selten vor. Einige Beispiele:

(nun sie vom leeren Himmel laut die)
Stille beschreit / und den Lärm / zum Gott nimmt

– Josef Weinheber; mit „heftigem“ Zeilensprung!

(Durch alle Frist, die dir das enge,)
Pochende Herz / in der Brust / herum-warf.

– Rudolf Alexander Schröder

(wenn ihm das Haus bebt und der Boden)
Unter ihm dröhnt / und der Berg / es nach-hallt

– Friedrich Hölderlin; da alterniert allerdigs auch schon der dritte Vers nicht wirklich, ist mithin die ganze „Welle“ in ihrem Steigen und Brechen und Fallen schwer in Unordnung …

Nun gut. Ich glaube, an den Schluss stelle ich nach all den Besonderheiten noch ein ganz gewöhnliche (aber schöne!) Strophe, die letzte eines Gedichts von Ludwig Hölty:

 

O Freund, des Griffels Ewigkeit ist ein Traum,
Der selten wahrsagt. Gleich dem Tithonus, zirpt
Unsterblich mancher Wicht; es schweiget
In der Vergessenheit Nacht Alcäus.

 

Tithonus, Geliebter der Eos, von Zeus unsterblich gemacht auf deren Wunsch hin – allerdings alterte er weiter; schrumpfte schließlich so zusammen, dass er eine Zikade wurde. Alcäus, der Vergessenheit Nacht: Abwarten!

– Der vierte Vers, jedenfalls: Fällt, wie es die vierten Verse (fast) immer tun.

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