Erzählformen: Das Madrigal (11)

Der am Ende des gestrigen Eintrags auftauchende Tithon kommt durchaus häufiger vor in Gedichten, deutschen wie anderssprachigen; von Alfred Tennyson gibt es zum Beispiel einen Blankvers-Text diesen Titels und ernsten Inhalts –

 

I ask’d thee, „Give me immortality.“
Then didst thou grant mine asking with a smile,
Like wealthy men who care not how they give.

 

– aber mir fiel, wie so oft, eher Christoph Martin Wieland ein, auch wenn am Beginn von dessen „Aurora und Cephalus“ Tithon nur eine Nebenrolle zukommt:

 

Noch lag, umhüllt vom braunen Schleier
Der Mitternacht, die halbe Welt;
Es ruht‘ in ungestörter Feier
Das stille Tal, das öde Feld,
Der Nymphenchor an ihren Krügen,
Der trunkne Faun auf seinem Schlauch,
Vielleicht fügt’s Nacht und Zufall auch,
Das manche noch bequemer liegen;
Der Elfen schöne Königin
Hatt‘ ihren Ringeltanz beschlossen,
Und sanft auf Blumen hingegossen
Schlief jede kleine Tänzerin;
Und kurz, es war zur Zeit der Mette,
Als sich Auror zum ersten Mal
Aus ihrem Rosenbette
Von Tithons Seite stahl.
Die Schlafsucht, die sie ihrem Gatten
Sonst öfters vorzurücken pflag,
Kam dieses Mal ihr wohl zu statten.
Sie zieht die Brust, an der er schnarchend lag,
Sanft unter ihm hinweg, verschiebt mit Zephyr-Händen
Die Decke, glitscht heraus, deckt leis ihn wieder zu,
Wirft einen Schlafrock um die Lenden
Und wünscht ihm eine sanfte Ruh.
Sie fand im Vorgemach die Stunden,
Die ihre Zofen sind, vom Schlummer noch gebunden;
Nur eine ward, indem die Göttin sich
Mit leisem Fuß bei ihr vorüber schlich,
Aus einem Traum, den Mädchen gerne träumen,
Halb aufgeschreckt; sie schrie, wie Nymphen schrein
Um feuriger geküsst, nicht um gehört zu sein;
Auror erschrickt und flieht; allein,
Das Mädchen legt sich, ruhig auszuträumen,
Aufs andre Ohr, und schlummert wieder ein.
Die Göttin eilt, spannt (was sie nie getan)
Mit eigner schöner Hand vor ihren Silberwagen
Drei rosenfarbne Stuten an,
Und lässt sich nach Hymettus tragen.
Dort steigt sie ab, lässt Pferd und Wagen
In einer Grotte stehn, und sucht mit zartem Fuß,
Aus dessen Tritten Rosen sprossen,
Den schönen Cephalus.

 

Eine Göttin auf Abwegen?! Ja, aber auch Tithons wegen; denn dem, wie er in seiner Jugend war!, sieht Cephalus zum Verwechseln ähnlich …

Von der Form her ist es Wieland, wie er leibt und lebt – bunt wechselnde Reime, bunt wechselnde Länge der streng alternierenden Verse, zwischen drei- und sechshebig ist alles vertreten; und liest sich, wie immer, sehr anmutig, was sich durch lautes Lesen einfach bestätigen lässt!

(„Pflag“ ist die alte, früher übliche starke Form von „pflegen“; „glitscht“ klingt heute etwas eigen im gezeigten Zusammenhang, meint aber wohl schlicht „gleiten“.)

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