Die meisten Beiträge dieses Blogs drehen sich um „Erzählverse“, also um die Frage, wie man welche Verse benutzen kann, um Erzählgedichte zu schreiben; die dann schon einmal eine drei- oder gar vierstellige Zahl von Versen lang sein können!
Das Ein-Vers-Gedicht soll ein kleines Gegengewicht dazu sein. Unter diesem Titel versammeln sich Gedichte, die genau einen Vers lang sind!
Solche Gedichte sind eine Teilmenge der sogenannten „Monosticha“, womit alle Gedichte gemeint sind, die eine Zeile lang sind. Solchen Gedichten kann ein Vers zugrundeliegen, muss es aber nicht; bei den hier vorgestellten Gedichten ist immer ein Vers die Grundlage, oft dieselbe Art Vers, die gereiht ein Erzählgedicht ergibt.
Im ersten Beispiel ist der verwendete Vers der Trimeter. Das Gedicht stammt von Friedrich Rückert:
Gib jedem seine Stelle, so hat alles Platz.
Das klingt jetzt nicht unbedingt wie ein Gedicht – ist das nicht ein „Aphorismus“, also Prosa?! Nein, und das aus zwei Gründen:
– Der Text erfüllt die metrischen Vorgaben eines Trimeters, eingeschlossen den Einschnitt nach der siebten Silbe (der zusammen mit dem nach der fünften Silbe am häufigsten ist; für die Einzelheiten bitte ich, in den Beiträgen der Kategorie „Der iambische Trimeter“ nachzuschauen):
x X / x X / x X / x || X / x X / x X
Gib je– / dem sei– / ne Stel– / le, || so / hat al– / les Platz.
– Der Text stammt aus einer Gedichtsammlung, Rückerts „Liedertagebuch 1847“, wo es unter dem 27. März eingetragen ist inmitten anderer Gedichte, die oft aus (mehreren) Trimetern bestehen!
Der Inhalt passt ganz gut zu der hier vorgestellten Gedichtart, denke ich; denn in einem Vers, vor allem, wenn es ein längerer ist wie zum Beispiel ein Hexameter, lässt sich wirklich sehr viel unterbringen – man muss nur „jedem seine Stelle geben“, wie Rückert sagt!
Zum Abschluss noch ein anderer „Einversgedicht-Trimeter“ Rückerts:
Von aller Arbeit ist die schwerste Müßiggang.
x X / x X / x || X / x X / x X / x X
Von al– / ler Ar– beit || ist / die schwers– / te Mü– / ßiggang.
Diesmal mit dem Einschnitt nach der fünften Silbe … Der Inhalt scheint mir eine gerade an den Weihnachtstagen erinnernswerte Lebensweisheit zu sein?!