In Theodor Fontanes erstem Roman, „Vor dem Sturm“, hat die alkäische Strophe in Form von Friedrich Hölderlins „An die Parzen“ einen recht bemerkenswerten Auftritt – ich denke, es lohnt gleich aus mehreren Gründen, den kurzen Auschnitt zu lesen!
Hansen-Grell hatte mittlerweile alles gefunden, was ihm wünschenswert erschien, und präsentierte jetzt, nachdem er, ängstlich die Diele haltend, den weiten Weg zwischen Ofen und Fenster zurückgelegt hatte, seinem Gaste eine bis an den Rand hin gefüllte Tasse Kaffee.
Dieser nahm, schlürfte und lobte und sagte dann: „Ich bin überrascht, Sie bei Hölderlin zu finden. Nach dem Bilde, das ich mir von Ihnen gemacht habe, mussten Sie mit der ums Morgenrot fahrenden Lenore für dieses und jenes Leben verbunden sein. Ich kann Ihnen auch allenfalls den wilden Jäger oder die Chevyjagd gestatten, aber Hölderlin? Nein.“
Hansen-Grell hatte sich auf den gegenüberliegenden Binsenstuhl gesetzt und sagte, während er seine beiden Hände auf das bequem übergeschlagene Knie legte: „Sie berühren da einen feinen Punkt, wenn Sie wollen, einen Widerspruch in meiner Natur. Vielleicht auch in mancher andern. Es ist ganz richtig, dass ich meiner Empfindung und, wenn ich von so Unbedeutendem sprechen darf, auch meiner Dichtung nach ganz in die neue Schule hineingehöre; ich halte es wohl oder übel mit den Romantikern und werde nie von etwas anderem träumen als von nordischen Prinzessinnen und siegreichen Schlangentötern. Und wird es mir gelegentlich des romantischen Apparates zu viel, so pfleg‘ ich mich, nach der Lehre vom Gegensatz, mit einer Art Passion auf Rokokodinge zu werfen und vor Puder und Reifrock nicht zu erschrecken. Aber etwas Klassisches nie, weder nach Form noch Inhalt.“
Lewin lächelte und wies auf das zwischen ihnen liegende Buch.
„Ich komme darauf“, fuhr Hansen-Grell fort, „das ist es ja eben, was mich von einem Widerspruche sprechen ließ. Ich werde nie klassisch empfinden, nie auch nur den Versuch machen, einen Hexameter oder gar eine alkäische Strophe aufzubauen, und doch, wo immer ich mit dieser Welt des Klassischen in Berührung komme, fühl‘ ich mich in ihrem Banne und sehe, solange dieser Zauber anhält, auf alles Volksliedhafte wie auf bloße Bänkelsängereien herab. Ich habe dann plötzlich aller naiven Dichtung gegenüber ein Gefühl, als ob ich hübsche Dorfmädchen auf einem Hofball erscheinen sähe; sie bleiben hübsch, aber die Buntheit und die Willkürlichkeit ihres Aufputzes lässt selbst ihren wirklichen Reiz als untergeordnet erscheinen.“
„Ich kann Ihnen darin nicht zustimmen“, erwiderte Lewin. „Sie sprachen schon selbst das Wort aus, auf das es mir anzukommen scheint, solange der Zauber anhält. Da liegt es. Auch in der Kunst gilt das Toujours perdrix, und jedes Zuviel weckt das Verlangen nach einem Gegenteil.“
„Möglich, dass Sie es mit dem Toujours perdrix getroffen haben“, sagte Hansen-Grell, „aber nach meiner eigenen persönlichen Erfahrung muss ich es doch in etwas anderem suchen. Vielleicht haben Sie Ähnliches beobachtet. Unsere dichterische Produktion, und das ist der Punkt, auf den ich Gewicht lege, entspricht unserer Natur, aber nicht notwendig unserem Geschmack. Dieser kann sich über jene erheben. Wollen wir einen Einklang herstellen, soll unser Geschmack, der unsere Lektüre bestimmt, auch unsere Produktion bestimmen, so lässt uns die Natur, die andere Wege ging, im Stich, und wir scheitern. Wir haben dann unseren Willen gehabt, aber das Geborene ist tot.“
Lewin wollte antworten, Hansen-Grell indes fuhr in Entwickelung seines Gedankens mit Lebhaftigkeit fort: „Im übrigen, was unseren schwäbischen Hyperion angeht«, und dabei schlug er mit dem Finger auf das vor ihm liegende Bändchen, „so löst sich der Widerspruch, den ich Ihnen anfänglich zugestand, auf eine vielleicht viel einfachere Weise. Hölderlin, aller Klassizität seiner Form unerachtet, ist Romantiker von Grund aus. Darf ich Ihnen meine Lieblingsstrophen vorlesen?“
„Ich bitte darum.“
Es dunkelte schon. Da Hansen-Grell aber die Strophen so gut wie auswendig wusste, so genügte jede Beleuchtung, und er las:
Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen,
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Dass williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe!
Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heil’ge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinabgeleitet; einmal
Lebt‘ ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
Er legte das Buch aus der Hand und fuhr ohne Pause fort: „Das sind alkäische Strophen, klassisch in Bau und Form, und doch klingt es in ihnen romantisch trotz Orkus und aller Schatten- und Götterwelt der Klassizität.“ Nun erst sah er auf Lewin.
Dieser schwieg noch immer. Aber sein Schweigen sagte mehr, als es die enthusiastischsten Worte gekonnt hätten. Endlich sprach er vor sich hin: „Wie schön, und wie ist die Stimmung getroffen!“