Das meiste von dem, was Friedrich Leopold Stolberg vor über 200 Jahren geschrieben hat, ist heute nicht mehr recht genießbar. Aber ein Dichter war er schon, und da wundert es nicht, dass sich immer wieder einzelne Verse und Strophen finden, die aufhorchen lassen! Hier nöchte ich drei Strophen aus seinem Gedicht „Die Westhunnen“ vorstellen, geschrieben im alkäischen Maß:
Mit trunknem Wahnsinn stimmt sie ein Liedchen an,
Und Millionen stimmen in’s Liedchen ein,
Und wo es tönt, da sucht vergebens
Rettung die Unschuld mit wunder Seele;
Stolberg, 1819 gestorben, hat von den Schrecken des 20. Jahrhunderts nichts gewusst; aber wer einen Teil seiner Lebenszeit in ihm zugebracht hat, den lassen diese Verse wahrscheinlich trotzdem nicht gänzlich unberührt – zu gut scheinen sie zu passen …
Und wenn die blasse Wut der Verzweiflung
Der ersten Hölle glimmende Asche dir
Im Herzen aufhaucht, wenn des Lebens
Elend auf ewigen Jammer deutet;
Geh zum entweihten Tempel, und stürze dann
In blutgen Staub – du nanntest Vernunft sie – stürz
In Staub dich vor der nackten Hure,
Dass sie dir nun und im Tode helfe!
Auch nicht ganz der Inhalt, den man erwartet, von Stolberg, seiner Zeit, der alkäischen Strophe?! Aber davon abgesehen: die Art, wie Stolberg hier die in der Strophe angelegte Bewegung aufnimmt und verstärkt und wirklich in einem einzigen Schwung durch die Strophen rauscht, und Erregung und Empörung die Sätze in Unordnung bringen und doch nicht aus dem strengen Versschema ausbrechen – das macht diese beiden Strophen höchst lebendig und auch nach über 200 Jahren noch lesenswert!