Der cherubinische Wandersmann

Der „cherubinische Wandersmann“ ist eine Sammlung von zumeist sehr kurzen Epigrammen; geschrieben hat diese der christliche Mystiker Angelus Silesius im 17. Jahrhundert. „Sehr kurz“, das meint: ein Verspaar lang, und damit schließt sich dieser Eintrag an den gestrigen an, denn im Barock war ein solches Verspaar eben ein Alexandriner-Couplet!

Angelus Silesius, oder Johann Scheffler hat diese Form sehr sicher beherrscht, und schon nach dem Lesen von zehn, zwanzig seiner Epigramme ist ihr ganz eigener Tonfall so vertraut, das man hingeht und selbst Alexandriner-Couplets schreibt; ohne Mühe und eines nach dem anderen. Jedenfalls ging es mir so; wer selbst den Versuch machen möchte – hier eine kleine Kostprobe von sechs Epigrammen, einem aus jedem Buch des „Wandermanns“!

 

 Verachtet sein bringt Wonne (2/244)

Verlacht, verlassen stehn, viel leiden in der Zeit,
Nichts haben, können, sein: Ist meine Herrlichkeit.

 

Gott ist allem gleich nahe (5/72)

Gott ist dem Belzebub nah wie dem Seraphim:
Es kehrt nur Belzebub den Rücken gegen ihm.

 

Gott nichts und alles (4/38)

Gott ist ein Geist, ein Feur, ein Wesen und ein Licht:
Und ist doch wiederum auch dieses alles nicht.

 

Das menschliche Herze (3/111)

Gott, Teufel, Welt und alls will in mein Herz hinein:
Es muss ja wunderschön und großes Adels sein!

 

Ich tue es Gott gleich (1/18)

Gott liebt mich über sich: Lieb ich ihn über mich,
So geb ich ihm soviel, als er mir gibt aus sich.

 

Ein Wurm beschämt uns (6/32)

O Spott! Ein seiden Wurm, der wirkt, bis er kann fliegen;
Und du bleibst, wie du bist, nur auf der Erde liegen!

 

Das klingt hier und da etwas altertümlich, unvermeidlich; aber es lässt auch schon ahnen, wie eine größere Menge solcher Epigramme – und das meint hier: viele Hundert! – wirkt. Besonders gut ausdrücken lassen sich in diesem Rahmen Gegensätze, und Angelus Silesius macht von dieser Möglichkeit auch reichlich Gebrauch, ein Epigramm nach dem anderen ist so aufgebaut.

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