Johann Heinrich Voss und Ludwig Hölty (2)
In (21) tauchten die beiden zuerst auf; wer sich ihrer nicht mehr erinnert, kann ja dort einmal vorbeischauen? Hier möchte ich nur kurz einen einzelnen Vers aus einer Handschrift Höltys gegenüberstellen der Fassung, die er in der von Voss betreuten Buchausgabe erhalten hat. In „Der arme Wilhelm“ heißt es in der Handschrift:
Und ein fliegender Lichtglanz flog durch die Fenster der Kirche.
Das ist einmal inhaltlich etwas verwunderlich – etwas „fliegendes“ „flog“?! Es ist aber auch im Versbau wacklig: Die Zäsur liegt hinter „flog“, aber eigentlich möchte man sie hinter „Lichtglanz“ lesen; der erste Versfuß ist sehr schwach, da zweisilbig und mit Leerwörtern besetzt. Allen drei Mängeln hilft die Fassung der Buchausgabe ab!
Und die erleuchteten Fenster durchfuhr ein fliegender Lichtglanz.
Viel besser! Die Dopplung ist raus, die Zäsur hinter „Fenster“ (oder, wenn man mag, hinter „durchfuhr“) ist verständlich und im Vortrag darstellbar; Der erste Fuß hat zwar immer noch ausschließlich „Leersilben“, ist aber nun dreisilbig, wodurch er doch zumindest ausreichend Gewicht und Dauer bekommt; und schließlich ist der „Lichtglanz“ ans Ende des Verses gerückt, wo er durch die beachtlich schwere Schluss-Silbe „-glanz“ den leichten, bewegten Vers volltönend zur Ruhe bringt.
Man sieht: Die Arbeit am Vers lohnt …
(Gefunden habe ich die beiden Fassungen in Walter Hettche (Hrsg.): Ludwig Christoph Heinrich Hölty. Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe. Wallstein 1998., ein Umstand, den ich anmerke, weil mir diese Ausgabe wirklich sehr gut gefällt!)