Peter von Matt: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte.
Diesen zuletzt 2001 bei dtv erschienenen Band kann man sicher uneingeschränkt empfehlen. Er enthält eine Vielzahl von Texten, Gedichtinterpretationen zum Beispiel ebenso wie Dichter-Porträts, und deckt dabei die ganze Bandbreite der deutschen Dichtung ab, auch zeitlich.
Mit am spannendsten aber sind die 80 Seiten des ersten Teils, der „Die Lyrik im Verdacht“ überschrieben ist und den Untertitel „Zur Anthropologie des Gedichts und zum Ärgernis seiner Schönheit“ führt; und in dem es manches überraschende zu lesen gibt. Einige Zeilen daraus, auch, um einen Eindruck davon zu geben, auf welche Art von Matt hier schreibt (S.11-12):
Das Gedicht ist ein Ereignis wie ein schießender Stern oder der Schrei aus dem eigenen Mund, an dem wir in der Nacht erwachen. Wenn dieses Ereignis seinem innersten Willen nach schön sein will, was soll es selbst sich darum kümmern? Ein Problem, und ein dorniges, bitteres, stellt die Tatsache erst für jene dar, die über Gedichte zu reden haben. Sie nämlich dürfen das simple Faktum nicht aussprechen, weil sie sich sonst selber vor einer wachsamen Öffentlichkeit der Verlogenheit schuldig machen. Weil „schön“ nicht „wahr“ sein kann, vertritt, wer eine bestimmte Kunst von ihrem Willen zur Schönheit her definiert, eine faule und falsche Ästhetik, eine Ästhetik der Lüge. Er spricht der Kunst den Willen zur Wahrheit ab, entlässt sie überhaupt aus der Pflicht zur Wahrheit und macht sie zum Luxus. Wir aber brauchen doch die Wahrheit. Wir brauchen die Kunst, weil wir die Wahrheit brauchen. Und was nicht gebraucht wird und dennoch da ist und gefallen will, ist Luxus. So hängen Lüge und Luxus im Verdacht gegen die Lyrik zusammen. So ist aller Verdacht gegen die Lyrik ein entschieden moralischer.
– Da lohnt es sich nicht nur, über das Gesagte nachzudenken; sondern ich finde, das Lesen macht auch viel Freude.