2002 ist bei Hanser „So und nicht anders“ erschienen, ein Gedichtband mit „ausgewählten und neuen Gedichten“ Günter Kunerts. Das ist schon an sich ein lesenswertes Buch mit vielen guten und bedenkenswerten Texten; darüber hinaus finden sich aber auch einige in iambischen, vierhebigen Reimpaaren verfasste Gedichte darin! Eines von ihnen, ein kurzes und recht bekanntes, steht auf Seite 85:
Bruder Kleist
Legendenlast: du trägst sie schwer.
Du ahnst zuviel. Und wagst nichts mehr.
Die Welt verläuft. Du bist allein.
Und bist zugleich der Widerschein
von einem längst verwehten Geist
von dem du nur den Namen weißt.
Ein deutsches Schicksal: Was da tönt
ist stets ein Schuss. Bleibt unversöhnt.
– Rein von der Form, von der Bewegung her ein eindrücklich aufgebautes Gedicht?! Zuerst werden die Vierheber als solche gar nicht vernehmbar, zu tief schneidet die Zäsur genau in der Versmitte und lässt den Vers eher wie ein Paar von Zweihebern erscheinen; und das über die ersten drei Verse hinweg! Dann aber, mit dem zweiten Vers eines Reimpaars & wieder über drei Verse: Satz und Nebensatz, der eine füllt zwei Verse, der andere einen – ein weiter Bogen, ein scharfer Gegensatz zu den kleinen Schritten der ersten drei Verse. Und zum Schluss wieder zwei scharf zäsurierte Verse, einmal ist die Zäsur um eine Silbe nach hinten verschoben; dann aber fällt der Schlussvers wieder ins Muster des Einstiegs: Zwei knappe Sätze, beide noch auf den Vorvers bezogen, die den Vers genau in der Mitte spalten.
Ein wirkungsvoller Aufbau!? So ähnlich klingt auch noch ein anderes Gedicht der Sammlung, „Kleinstadt“ (S. 97), auch wenn der Gegensatz zwischen „Stocken“ und „Strömen“ dort nicht ganz so ausgeprägt ist.