Dieser Beitrag gibt eine sehr knappe Einführung in den Aufbau des Hexameters; das dabei Mitgeteilte sollte aber ausreichen, um zum einen den in den kommenden Beiträgen angestellten Überlegungen folgen zu können, und zum anderen gleich an das Schreiben eigener Hexameter zu gehen!
Im Silbensbild sieht ein deutscher (!) Hexameter wie folgt aus:
X x (x) / X x (x) / X x (x) / X x (x) / X x x / X x
Dabei meint X eine betonte Silbe, x eine unbetonte Silbe, und (x) eine unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht stehen muss. Die Schrägstriche grenzen der besseren Übersichtlichkeit halber die sechs Grundeinheiten des Verses gegeneinander ab!
Als Langvers ist der Hexameter auf einen Einschnitt in der Versmitte angewiesen, um nicht zu breiig und unklar zu erscheinen. Diese „Zäsur“ kann im wesentlichen an vier Stellen im Vers liegen:
X x (x) / X x (x) / X | x | (x) / X | x | (x) / X x x / X x
Ein sicheres Verständnis für die Zäsur und der aufmerksame Umgang mit ihr sind unbedingt nötig für das Gelingen eines Hexameters! Für den Anfang reicht es aber, zu wissen: Der Vers muss in der dritten oder in der vierten Einheit einen Einschnitt haben – eine Sinnpause zumindest, eine Satzpause ist gleichfalls häufig.
Unbedingt zu vermeiden dagegen ist ein Einschnitt vor dem dritten oder vor der vierten Einheit! Ein solcher Vers bewegte sich nicht wie ein Hexameter. Ein Einschnitt vor der fünften Einheit ist allerdings schon seit der Antike möglich, aber nicht häufig, und schreibt man sich ein in den Hexameter, lässt man ihn vielleicht besser erst einmal weg.
Man kann es auch noch anders ausdrücken: Im Hexameter sollte die zweite Vershälfte nicht mit einer betonten Silbe beginnen!
Ich zeige diese Silbenverteilung und auch die Einschnitte an den ersten vier Versen aus Eduard Mörikes „Märchen vom sichern Mann“:
Soll ich vom sicheren Mann ein Märchen erzählen, so höret!
– Etliche sagen, ihn habe die steinerne Kröte geboren.
Also heißet ein mächtiger Fels in den Bergen des Schwarzwalds,
Stumpf und breit, voll Warzen, der hässlichen Kröte vergleichbar.
V1: X x x / X x x / X || x / X x x / X x x / X x
Soll ich vom / sicheren / Mann || ein / Märchen er- / zählen, so / höret!
V2: X x x / X x x / X x || x / X x x / X x x / X x
– Etliche / sagen, ihn / habe || die / steinerne / Kröte ge- / boren.
V3: X x / X x x / X x x / X || x x / X x x / X x
Also / heißet ein / mächtiger / Fels || in den / Bergen des / Schwarzwalds,
V4: X x / X x / X x || x / X x x / X x x / X x
Stumpf und / breit, voll / Warzen, || der / hässlichen / Kröte ver- / gleichbar.
In langen Vers-Erzählungen ist es äußerst wichtig, dass der Vers abwechslungreich gestaltet wird; andernfalls erlahmte die Aufmerksamkeit, weil das Ohr immer wieder dasselbe vernimmt. Der Hexameter ist bestens dafür geeignet, durch die verschiedenen Silbenanordnungen und die vier möglichen Zäsuren ergeben sich schier unendliche rhythmische Möglichkeiten! Der immer gleiche Schluss, X x x / X x, stellt dagegen sicher, dass die Verse dennoch als Abwandlungen immer des gleichen Grundverses erscheinen. Die vier vorgestellten Verse verdeutlichen diesen Grundgedanken sehr schön!
Hexameter klingen gut, wenn die zweisilbigen Einheiten im Vers sich nicht allzustark von den dreisilbigen unterscheiden. Daraus ergibt sich folgende Leitschnur:
– In zweisilbigen Einheiten sollte die betonte Silbe möglichst kräftig sein; dadurch gewinnt diese kleinere Einheit an Gewicht. Mörike hat das getan, „Mann ein“, „Stumpf und“ sind zwei gute Beispiele. Bei „Schwarzwalds“ steuert auch die unbetonte Silbe noch einiges an Gewicht bei, diese zweisilbige Einheit ist also sicher keiner dreisilbigen unterlegen! Genau andersrum ist es bei „Also“: Diese zweisilbige Einheit ist vergleichsweise schwach und fällt gegen die folgende dreisilbige Einheit „heißet ein“ deutlich ab?!
– In dreisilbigen Einheiten sollten die beiden unbetonten Silben möglichst schwach und unauffällig sein, um den Abstand zu den zweisilbigen Einheiten nicht zu groß werden zu lassen. Da ist Mörike sehr streng, ganz gleichgültig, ob die Einheit aus einem Wort besteht, „etliche“, aus zwei Wörtern, „habe die“, oder aus drei Wörtern „Fels in den“!
Soweit erstmal. Ich hoffe, ich habe niemanden abgeschreckt; denn das wäre schade! Trotz all dieser Silbenbildchen erschließt sich der Hexameter dem Ohr schon bald „einfach so“, seine Bewegungslinie ist sehr, sehr einprägsam. Und auch das über die zwei- und dreisilbigen Einheiten gesagte ist nur ein Richtwert – wenn es möglich ist, sollte man es machen; lässt die Satz- oder die Gedankenführung es nicht zu, geht es auch anders. Und mit der Zeit geht auch das so in Fleisch und Blut über, dass man irgendwann gar nicht mehr darauf zu achten braucht!