Erzählverse: Der Hexameter (100)

V. W. Neubecks „Die Gesundbrunnen“ waren zu ihrer Zeit ein geachtetes Werk. O. L. B. Wolf schreibt im 5. Band der „Encyklopädie der deutschen Nationalliteratur“:

Neubecks vorzüglichstes Werk ist sein didaktisch-deskriptives Gedicht „Die Gesundbrunnen“; es besitzt namentlich in Hinsicht auf den Reichtum der Gedanken, die trefflichen poetischen Schilderungen und die hohe Korrektheit der Sprache und Form wahrhaft klassischen Wert; nur tritt das lyrische Element mitunter zu beherrschend vor und stört, nach strengen Anforderungen, die Ruhe, welche das Lehrgedicht haben soll.

Da ist etwas dran … Anfang des vierten Gesangs zum Beispiel erklärt Neubeck, wann die beste Zeit für eine Kur gekommen ist; dabei verliert er ein wenig die Beherrschung über das „lyrische Element“:

 

Wann der feuchtende Frühling entflieht, und der heitere Sommer
Nun das schwellende Jahr mit strahlendem Zepter beherrschet:
Dann, ihr Siechen, enteilt, enteilt der verpesteten Stadtluft,
Eilt auf stäubenden Rädern den Berg hinan, und hinunter
Wieder zum Tal, hindurch den Wald zum reizenden Tempe,
Wo die Nymphe des Quells euch zuruft frohes Willkommen.
Horch! So tönt ihr Gesang zum Empfang aus dämmernder Mooskluft:
Kommt, ihr Geweihten der Qual! Ihr Opfer der blassen Morbona!
Seid mir willkommen im Tal! Für Liebeskummer und Mühsal
Quillt Vergessenheit hier; hier blühn hesperische Gärten;
Kein blauschuppiger Drache bewacht sie; hier ist das Eiland
Heiterer Ruh, wo jeder in sorgenzerstreuender Muße
Selige Tage verlebt; hier säuselt ein grünendes Daphne,
Lächelt ein duftendes Enna, bewässert mäandrischer Bäche
Silber ein tempisches Tal: ein Idyllenleben zu führen
Winkt ein Arkadien hier, wo jeder Jüngling ein Hirt ist,
Schäferin jegliches Mädchen; wo Grazien Tänze beginnen;
Ja, wo selber die Musen des Pindus goldenes Haintal
Wiederfinden, und oft dem entzogenen Waller erscheinen,
Wann er einsam im Dunkel entlegener Schatten verweilet.
Naht euch ohne Verzug, ihr Heilungssuchenden, naht euch
Meinem Gebiet! Hier wird in der Kühle des luftigen Haines
Euch unsichtbar begegnen die lebensfrohe Genesung,
Euch mit dem Nelkenodem umwehen auf einsamen Pfaden,
Euch erquicken im süßen, balsamischen Schlummer, und huldvoll
Nach vollendeter Heilung zurück in die Heimat begleiten.

 

Man kann sich das kürzer vorstellen. Doch! Aber trotzdem: Unter der antiken Verbrämung sind Verse am Werk, die zu lesen Spaß macht und die für vieles entschädigen; auch heute noch. Ich bitte die Probe zu machen, selbstredend mithilfe des wirklichen, des gesprochenen Vortrags!

Dabei sind die Verse nicht ohne Schwächen: Die Art zum Beispiel, wie in den ersten beiden Versen jedes Dingwort mit einem Wiewort versehen wird, wirkt handwerklich doch ein wenig unbedarft; und Gleichklänge wie „-sang“ „-pfang“, oder der „Zäsurreim“ der beiden folgenden Verse, „Qual“, „Tal“; derlei trägt eher nicht zum guten Gesamteindruck bei?!

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