Der Verserzähler stellt fast ausschließlich Verse und Formen vor, die auf den Reim verzichten; Verserzählen im 21. Jahrhundert wird, wenn überhaupt, meiner Meinung nach in ungereimter Form eher wahr- und aufgenommen als in gereimter. Zwei Ausnahmen möchte ich aber doch machen, und die eine davon ist: das Sonett.
Das Sonett kann vieles; und es kann ohne Zweifel auch erzählen! Sicher wird man beim Begriff „Sonett“ zuerst eher an das „Ich-Sonett“ denken, in dem ein „Ich“ über Liebe, Vergänglichkeit und Tod nachdenkt, oder sein Leiden an der Welt schildert, oder in Worte fasst, was immer sonst ihm widerfährt; aber der Sonett-Raum von vierzehn fünfhebigen Versen ist auch groß genug und geeignet, um eine wirkliche, echte Geschichte sogar recht ausführlich zu erzählen!
Ein inzwischen schon klassisches Beispiel für ein solches Erzähl-Sonett kann „Gold“ gelten, das erste der „Kriminalsonette,“ die von Ludwig Rubiner, Livingstone Hahn und Friedrich Eisenlohr verfasst worden sind und gerade ihren 100. Geburtstag gefeiert haben.
Gold
FRED wird in einem braunen Tabakballen
Vom Hafen auf die Zollstation getragen.
Dort schläft er, bis die Schiffsuhr zwölf geschlagen.
Erwacht und schleicht sich in die Lagerhallen.
Am Gold-Depot, wo trunkne Wächter lallen,
Lässt er den kleinen Mörtelfresser nagen,
Bis wie beim Kartenhaus die Mauern fallen.
Dann lädt er Gold in einen Grünkohlwagen.
Als Bauer fährt er sächselnd durch den Zoll.
Doch dort verraten ihn zwei blanke Barren.
Berittne jagen den Gemüsekarren.
Fred sinnt verwirrt, wie er sich retten soll.
Da sitzt DER FREUND in hoher Eberesche
Und schießt ihm pfeiferauchend eine Bresche.
Eine Geschichte, ganz im Ton der Zeit um 1910; aber eben eine Geschichte! „Gold“ habe ich auf http://www.rubiner.de/ gefunden, wo auch sämtliche anderen Kriminal-Sonette nachgelesen werden können.