Auch unter Gotthold Ephraim Lessings „Sinngedichten“ findet sich ein Ein-Vers-Gedicht:
Grabspruch auf einen Gehängten
Hier ruht er, wenn der Wind nicht weht!
Wobei sich, wie bei allen Kurz- und Kürzestgedichten, sicher gleich die Frage nach der Überschrift stellt. Kann ein Ein-Vers-Gedicht überhaupt eine Überschrift haben?! Kommt darauf an – auf das nämlich, was drinsteht. „Grabspruch“ zum Beispiel geht in Ordnung, das ist ja nur eine Art Gattungsbezeichnung; Der „Gehängte“ ist da sicherlich viel bedenklicher, weil ohne seine Erwähnung der eigentliche Vers nicht viel Sinn macht! Ich lasse die Frage einfach mal offen und werfe einen Blick auf den eigentlichen Vers. Der weist ja doch einiges an sprachlicher Gestaltung auf:
x X / x || X / x X / x X
Metrisch gesehen ein vierhebiger Iambus, der durch einen Einschnitt angenehm geteilt wird in einen kürzeren vorderen (x X x) und einen längeren hinteren Teil (X x X x X); beide symmetrisch gebaut. Diese beiden Teile sind dann wiederum in sich ansprechend gestaltet: Das „ruht“ bildet den Mittelpunkt des ersten Teils, der entgegengesetzte „Wind“ den Mittelpunkt des zweiten Teils, der zudem bei den drei betonten Silben noch ein Alliteration zu bieten hat: we, Wi, we.
Ist das viel, ist das wenig an sprachlicher Gestaltung? Bezogen auf die Länge des Textes: Einiges, scheint mir. Wobei das dann auch so eine Frage ist – sind die sprachlichen Erscheinungen, die in einem sehr kurzen Text spürbar werden, dieselben, die auch in einem längeren Text wirken? Oder muss man anderes bewerten, gar dasselbe anders werten?! Diese Ein-Vers-Gedichte sind halt ein Grenzbereich, und da verschwimmt vieles. Was dagegen sehr klar ist: Hier ist Lessing ein wirklich gutes „Sinngedicht“ gelungen!