Die bisher vorgestellten Möglichkeiten sind, bezogen auf den eigentlichen „Bewegungsschulenvers“:
– Ein kürzerer „Vollvers“, der die Grundgröße eines Gedichts ist, in dem aber auch „Halbverse“ und „Schlussverse“ vorkommen können;
– Ein längerer Vers, der sich aus einem „Vollvers“ und einem „Schlussvers“ zusammensetzt.
Beide Formen können aber durchaus auch im selben Gedicht auftauchen! Ich zeige das an einem Stück von Robert Eduard Prutz, „Die politische Wochenstube“.
Dort findet sich ganz am Schluss eine Parabase, in der „der Dichter“ seine eigene Meinung darlegt. Er beginnt in alternierenden Reimversen, denen ein Übergangsteil mit kürzeren Versen der oben genannten Art folgt; an diese schließen sich dann die längeren Verse an. Die Reimverse erklären dabei erst einmal, was überhaupt vorgeht! Der Dichter, behauptet Prutz,
…
Darf den Göttern seines Herzens frei vor allem Volke huldigen,
Darf sogar, mit leiser Stimme, seine Fehler selbst entschuldigen.
Drum fröhlich heraus, drum fröhlich heraus,
Anapästisch geflügelte Maße!
In dem Festtagsschmuck, in dem Tänzergewand,
Vollduftigen Kranz in entfesseltem Haar,
Mit den Sohlen geklatscht und die Schellen gerührt,
Dionysische, göttliche Freude!
Wohl ehezuvor, wenn sonst der Poet euch lyrische Strophen geklimpert,
Von Freiheitdrang, von Zukunfttraum und der sehnenden Hoffnung der Jugend:
…
Die Reimverse vor dem angeführten Paar haben gewöhnliche weibliche Reime; „huldigen / entschuldigen“ ist dann ein Reim mit ungewohnten zwei unbetonten Silben am Schluss! Das ist eine pfiffige Überleitung, finde ich, zu den folgenden Versen, die ja nicht mehr dem strengen „Auf und Ab“ folgen, sondern dem „tataTAM“ verpflichtet sind!
Die sechs kürzeren Verse sind dabei ein Vollvers, ein Schlussvers, drei Vollverse und wieder ein Schlussvers, alle formvollendet gebaut! Dann setzen die Langverse ein, und in ihnen ist die ganze, mehrere Dutzend Verse lange Selbstauskunft des Dichters gehalten.
Dieser kleine Ausschnitt zeigt: Der Bewegungsschulenvers ist, wie sein „großer Bruder“, durchaus in der Lage, im Verbund mit anderen Versen aufzutreten; was die Möglichkeiten der Textgestaltung noch einmal gewaltig erweitert! Erst recht, wenn man die Möglichkeit dazunimmt, andere Verse nicht nur abschnittsweise mit „unseren“ Versen wechseln zu lassen, sondern sie sogar unter diese zu mischen!
Auch dafür bietet Prutz ein Beispiel, kurz vor dem oben beschriebenen Ausschnitt:
O erschein‘, o erscheine, wir flehen dich an,
Zu lösen die Kette, zu sprengen das Band;
Dem zerschlagenen,
Seelezermarterten,
O erscheine dem flehenden Volke!
– Die ersten beiden Verse sind Vollverse, wobei der zweite durch die verschobene Zäsur und das einzelne „ta“ am Verseingang drei aufeinanderfolgende Wortfüße, will heißen: Sinneinheiten der Form „ta TAM ta“ erzeugt, die bekanntlich in der Häufung eine träge, schwunglose Bewegung zur Folge haben; man findet diese Bewegung oft in Reimversen, und tatsächlich ist „an / Band“ ja nicht so weit weg von einem Reim!
Nach diesen beiden Versen folgen zwei kurze Verse, deren Bewegungsmuster nicht zu denen „unserer“ Verse gehören, weder des kürzeren noch des längeren! Ganz fremd sind sie aber auch nicht durch ihre vielen „tata“; und setzt man sie zu einem Vers zusammen …
Dem zerschla– / genen, see– / lezermar– / terten,
ta ta TAM / ta ta TAM / ta ta TAM / ta ta
… erkennt man, sie unterscheiden sich zusammen von einem Schlussvers nur durch ein überzähliges „ta“ am Versende! Der letzte Vers ist dann, wie es sich gehört, ein tadelloser Schlussvers.
Und so bieten sich wieder neue Möglichkeiten. Ganz am Anfang der „Bewegungsschule“ stand ein einzelnes „tataTAM„; daraus hat sich inzwischen auf der Grundlage eines vergleichsweise einfachen Verses eine unübersehbare Fülle von Bewegungslinien und damit Darstellungsmöglichkeiten entwickelt, die aber alle aus diesem Ursprung hervorgegangen sind und noch von ihm wissen – und Zeugnis ablegen von ihm im Ohr des Hörers; wodurch ein Verfasser, der sich dieser Form bedient, eine große Freiheit hat bei der gleichzeitigen Sicherheit, stets den Eindruck von Zusammengehörigkeit und Einheit zu vermitteln.