Erzählformen: Das Distichon (3)

In Rudolf Borchardts „gesammelten Werken“ (Klett-Cotta 1957) steht im Band „Gedichte“, auf Seite 163, das strophische, gereimte „Auf eine angeschossene Schwalbe, die der Dichter fand“. Auch ein bedenkenswerter Text:

Wie sich in meiner Hand, die Wärme flößt,
Das lebensschwarze Auge wundert!
Ich bin nicht Gott, der dich verstößt
Wie hundert jeden Tag und aberhundert, –

Das ist eine Strophe daraus, so liest es sich. Drei Seiten und zwei Gedichte weiter folgt dann der Text, um den es hier eigentlich geht, traurigerweise die „Grabschrift der Schwalbe“. Die ist, wie es seit frühester Antike üblich ist, in Distichen geschrieben!

 

Ich, die verwundete Schwalbe, drei Tage des Menschen Genossin,
Sahe den schrecklichen Tod freundlicher werden und starb:
Schwestern im Blau, fliegt schweigend hier überhin, wo sich das Geistlein
Schüttelt und ringt nach Ruf, wenn es euch Rufende hört.
Gönnt mir Schweigen und singt, singt anderswo, wenn ihr das Meer wagt:
Nicht ganz, nicht ganz stumm flattert ich eine beiseit.

 

Ein auch und gerade in seiner Wortbewegung starker Text!? Große Bögen, und immer ein unbedingtes Vorwärtsschreiten, das aber immer wieder anders klingt in den Einzelheiten. Zwei Stellen scheinen mir erwähnenswert, einmal der zweite Hexameter:

X x x / X || x / X x | x / X x x || X x x / X x

Schwestern im / Blau, || fliegt / schweigend | hier / überhin, || wo sich das / Geistlein

Ein Vers, in dem sich die Satzeinschnitte, die ich hier als „||„, also als Hauptzäsuren gekennzeichnet habe, und der eigentliche Verseinschnitt, „|„, einmal nicht decken?! Außerdem ist die Betonung von „überhin“ leicht verwirrend, jedenfalls für mich, der ich dieses Wort so nicht kenne und benutze.

Der zweite einer Bemerkung werte Vers ist der dritte Pentameter:

X x / X x / X || X x x / X x x / X

Nicht ganz, / nicht ganz / stumm || flattert ich / eine bei- / seit.

Das wegen seiner ersten Hälfte, die, leicht unüblich, mit zwei zweisilbigen Einheiten beginnt; da diese mit den beiden „ganz“ aber auch eine stark besetzte Senkungsstelle aufweisen, ergibt sich zusammen mit den drei gleichfalls kräftigen gehobenen Silben „Nicht“, „nicht“, „kommt“ ein fünfsilbiger, langsamer, getragener Wortblock, der die Bewegung des Verses wie des
gesamten Textes noch einmal deutlichst aufstaut, ehe dann in der zweiten Hälfte die Spannung sich löst und das Gedicht ausklingt; die Schwalbe „beiseit geflattert“ ist. Große Verskunst von Borchardt!

Da macht es dann auch nichts, dass der Text nur bedingt „erzählt“.

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