Erzählverse: Der Blankvers (79)

Richard Dehmels „Der Wunschgeist“ ist ein wenig zu lang, um hier vollständig vorgestellt werden zu können; aber die ersten Abschnitte geben schon einen guten Eindruck von der Tonlage des Textes:

 

Und wieder saß ich spät mit mir allein,
im Lichtkreis meiner Lampe, Ausgeburten
sehnsüchtiger Not durchs Hirn vom Herzen wälzend,
und wusste nichts von mir; ein krasser Wust
von Wünschen, schwirrt‘ ich vor mir selbst im Kreis
und sah die Wunschgespenster sich verknäueln,
sich würgen und sich fressen und in Qual
und zuckender Wollust miteinander paaren,
um neue Ausgeburten zu gebären.

Bis mir auf einmal, im verrückten Rausch
des Mitgefühls, die Nägel meiner Finger
in meine heißen Augenhöhlen fuhren,
dass ich aufwankte aus der Schwelgerei.
Und taumelnd fühlt‘ ich mich zum Fenster hin,
und stand und atmete die sanfte Nacht.

Da dehnte sich im Dunstlicht um mich her
Berlin – mit seinen Dächern, seinen Türmen,
Schornsteinen, Schloten, Kuppeln, Ruhmessäulen
heraufgebaut ins fahle Blau, als langte
aus ihrem Grabe scheintot eine Riesin
und reckte alle Finger bettelnd hoch:
nur leben will ich, leben, atmen, essen!

 

Inwieweit das eine gültige Beschreibung Berlins gewesen sein könnte, und vielleicht heute noch ist, müssen die Berliner entscheiden. Dehmels Blankvers jedenfalls fängt das Unruhige des Textes fein ein, finde ich; von den metrischen Freiheiten wird gerade soweit Gebrauch gemacht, dass der Text nicht zu getragen-würdig daherkommt – hier eine doppelt besetzte Senkung, da eine versetzte Betonung, einige, aber nicht zu auffällige Zeilensprünge.

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