Der Schlaf
Abends klopf ich an das Tor des Schlafs.
Lautlos tut sich’s auf, entgegen huscht mir
Dienerschaft wie Blätterschattenspiel,
Zwitterzeug aus Wolken und Musik.
Ihnen nach zu seiner Tropfengrotte
Tast ich mich und trinke das Willkommen,
Das er beut: ambrosischen Vergessens
Tiefen Trunk aus seinen kühlen Händen.
Früh erwachend find ich statt der staub’gen
Kleider neue, die wie Lilien schimmern.
So entlässt er den erschöpften Wandrer,
Wie ihr Kind die Mutter aus dem Schoße,
Wieder jung, der gastlichste der Götter.
„Der Schlaf“ findet sich im fünften Band der gesammelten Werke Ricarda Huchs, erschienen 1971 bei Kiepenheuer & Witsch, auf Seite 270. Es ist ein in seiner Schlichtheit überzeugender Text: Das Bild wird ausgeführt und vor dem Leser ausgebreitet in einer unaufgeregten, manchmal bewusst altertümelnden Sprache („beut“); und der diesem Vorgang innewohnenden Ruhe entspricht der gewählte Vers, der trochäische Fünfheber. Langweilig wird er aber nicht: Satz und Vers fallen manchmal aufeinander, manchmal trennen sie sich und gehen eigene Wege, und der Hörer wird so wie der Leser vor einer zu großen Eintönigkeit bewahrt; wozu auch die drei männlich schließenden Verse am Beginn beitragen.