Erzählformen: Das Distichon (26)

Christian Ludwig Neuffer, dessen Blankverse im gestrigen Eintrag vorgestellt wurden, war ein guter Freund Friedrich Hölderlins, der ihn in mehreren Gedichten angeredet hat. 1797 ist zum Beispiel ein Gedicht-Bruchstück entstanden, geschrieben in Distichen und mit der Überschrift „An Neuffer“; wer mag, kann sich die Handschrift ansehen, aber lesbarer für ein heutiges Auge dürfte der Text in dieser Darstellung sein:

 

Brüderlich Herz! ich komme zu dir, wie der tauende Morgen
Schließe du, wie der Kelch zärtlicher Blumen dich auf
Einen Himmel empfängst du, der Freude goldene Wolke
Rieselt in eilenden freundlichen Tönen herab.
Freund! ich kenne mich nicht, ich kenne nimmer den Menschen,
Und es schämet der Geist aller Gedanken sich nun.
Fassen wollt‘ er auch sie, wie er fasst die Dinge der Erde
Fassen
Aber ein Schwindel ergriff ihn süß, und die ewige Veste
Seiner Gedanken stürzt‘

 

– mehr ist da nicht (der drittletzte und der letzte Vers sind darüber hinaus unvollständig). Aber alleine das Distichon in der Mitte:

 

Freund! ich kenne mich nicht, ich kenne nimmer den Menschen,
Und es schämet der Geist aller Gedanken sich nun.

 

– Das könnte ohne weiteres für sich allein stehen und wäre in starkes, lebendiges, aussagekräftiges Verspaar! Hölderlins Distichen sind, keine Frage: Wunderwerke der höchsten Güte.

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