Erzählverse: Der trochäische Vierheber (5)

Ich möchte in den weiteren Beiträgen auf wirklich lange Erzähltexte zu sprechen kommen; solche, die mehrere tausend Verse umfassen. Diese Texte werden in der Regel nicht aus der Jetztzeit stammen, sondern vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts oder aus noch früherer Zeit.

Um aber zu zeigen, dass auch heutzutage in trochäischen Vierhebern erzählt werden kann und erzählt wird, stelle ich hier erst noch etwas von Robert Gernhardt ein, einen Ausschnitt aus seinem sehr langen Gedicht Ein Gespräch im Hotel „Schwarzer Bock“, Ansbach 1993. Entnommen habe ich den Ausschnitt dem Band Robert Gernhardt. Gesammelte Gedichte 1954 – 2004, der 2005 im S.Fischer-Verlag erschienen ist; die Verse finden sich darin auf den Seiten 340-342.

Der Text enthält eine Fülle von Formen, keineswegs nur Vierheber; an einer Stelle aber wird das „Ich“ gefragt „Und das soll ich dir abnehmen?“ – und setzt zu einer längeren Erzählung in Vierhebern an. Dieser:

Warum nicht? Ein Unbehauster
War auch ich in jenem Frühjahr,
Als die Frau mir anvertraute:
Du, da gibt es einen andern.
Nichts wie weg. Erst kurz vor Würzburg
überlegte ich: Wohin denn?
Amberg? Bamberg? Nürnberg? Bayreuth?
Dann die Flatter hinter Würzburg.

Bis die Abfahrt kam, das zog sich.
Fahr mal, wenn dein Herz verrückt spielt.
Runter. Valium. Drei Kreuze.
Das war knapp. Dann wieder Straßen,
Regen, Hinweisschilder, Ansbach.
Ansbach – war ich da nicht schon mal?
Wird schon dunkel. Also Ansbach.

Ansbach also. Zimmersuche.
Ja, das nehm‘ ich. Eilig weiter.
Schließlich muss der Mensch was trinken.
Aber wo? Auf Ansbachs Marktplatz
war nicht los. Doch sehr in Eile
kommt wer keuchend, rennt ins Helle,
stöhnt dabei. Im Licht der Lampen
wirkt er strange. Wie hieß denn noch mal
diese Jacke? Und weg war er,
rot und schwarz kariert. Noch als ich
das Lokal betrat, da lag’s mir
auf der Zunge. Ja, ein Helles!

Dunkler Abend. Je mehr Helle,
desto düsterer sie alle,
Schankraum, Kellner, Gäste, Zukunft.
Plötzlich kreischt es. In der Tür steht
eine Frau und weist nach oben,
kreischend, dass in ihrem Zimmer
jemand unter ihrem Bett läg‘,
nie gesehn, und Worte stöhne,
nie gehört. Dann ging die Post ab:
Aus dem Nebenzimmer stürzen
sieben Amis, breit wie Bären,
alle in den gleichen Jacken,
alle mit der gleichen Aufschrift,
alles Judo-Fighter. Alle
sind nur zu bereit zu fighten,
alle rauf. Wir andern warten.
Hören erst mal nichts, dann Flüche,
Klatschen, Winseln, Poltern. Dann ein
Schrei, so markerschütternd elend,
dass sich jedes Haar sträubt. Alle
schaun wir auf die Tür und sehen,
wie da wer im trüben Licht der
Toilette schreit. Im Halbkreis,
fast verlegen, steht die Meute,
deren Anführer zurückblafft.
Alles Amis, auch der Schreier,
offenkundig Opfer eines
derart übergroßen Schreckens,
dass er selber schreckt. Beklommen
treten wir zurück. Im Gastraum
herrscht erst Schweigen. Dann sagt einer
was von Drogen. Und ein andrer
was von Horror. Und ein Dritter
will ein Helles. Und dann läuft der
Film zurück: Die Amibären
kommen wieder rein, verschwinden
nebenan. Ein Krankenwagen
holt wen ab, und als er heulend
losfährt, weiß ich unvermittelt,
wie das hieß, was selbst im trüben
Licht der Toilette unschwer
zu erkennen war, schwarz-rote
kleine Karos, großer Kragen:
Lumberjack! Ja, noch ein Helles!

Der Text beginnt „lyrisch“ durch das seltsam anmutende „Unbehauster“; danach aber, spätestens ab dem zweiten Abschnitt, erzählt er mit Begriffen der Gegenwart über die Gegenwart; und das auf eine Art, wie es Prosa nicht könnte, meiner Meinung nach!

Wie behandelt Gernhardt den Vers? Auf einer so langen Vers-Strecke könnte man auf vieles hinweisen, aber ich beschränke mich auf drei Dinge.

Amberg? Bamberg? Nürnberg? Bayreuth?

Ich habe in den vorigen Beiträgen darauf hingewiesen, dass Verse dieser Art – X x / X x / X x / X x /, mit dem Zusammenfall von Wort- und Verfuß-Grenzen – „klappern“ und besser vermieden werden. Es gibt allerdings eine Ausnahme, und das ist die Aufzählung. Da ist dieser tiefe Einschnitt willkommen, denn dadurch werden die Bestandteile der Aufzählung vereinzelt, es entsteht ein Liste; was ja im Sinne einer Aufzählung ist. Solche Verse haben alle Verfasser!

Später folgt auch hier ein weiterer solcher Vers:

Schankraum, Kellner, Gäste, Zukunft.

Und weiter hinten im Gedicht, nach dem hier vorgestellten Ausschnitt, bedient sich Gernhardt dann auch noch einmal aus dem allgemeinen Vorrat solcher Aufzählungen: „Friede, Freude, Eierkuchen“.

Aber weiter. Eine Frage bezüglich des Vers-Schlusses lautet: Wie hält es der Verfasser dort mit einsilbigen Wörtern? Die dadurch erzielte Wirkung ist sehr verschieden von der Wirkung zweisilbiger Wörter. Einmal kann so ein Zeilensprung eingeleitet werden:

Hören erst mal nichts, dann Flüche,
Klatschen, Winseln, Poltern. Dann ein
Schrei, so markerschütternd elend,

„ein / Schrei“, mit einiger Wirkung! Aber auch ohne Zeilensprung sind Einsilber am Versende möglich:

wirkt er strange. Wie hieß denn noch mal
diese Jacke? Und weg war er,
rot und schwarz kariert. Noch als ich
das Lokal betrat, da lag’s mir

Hier sind die auf der Hebungsstelle stehenden Einsilber auch noch recht schwach, es fällt schwer, sie zu betonen; durch den immer noch vorhandenen, wenn auch nicht so strengen Zeilensprung löst sich das Versende beinahe auf, wird unhörbar?

Das hält Gernhardt allerdings sehr häufig so. Etwa an der schon genannten Stelle:

Hören erst mal nichts, dann Flüche,
Klatschen, Winseln, Poltern. Dann ein

Hier verteilt er eine dieser angesprochenen viergliedrigen Aufzählungen ungleich auf zwei Verse! Ein anderes Beispiel:

…                 Dann sagt einer
was von Drogen. Und ein andrer
was von Horror. Und ein Dritter
will ein Helles.

Das sind, strenggenommen, drei glasklare Vierheber:

Dann sagt einer was von Drogen.
Und ein andrer was von Horror.
Und ein Dritter will ein Helles.

– Aber Gernhardt zieht es vor, „Vers“ und „Satz“ nicht aufeinanderfallen zu lassen; auch so verschwimmt dem Ohr die Verseinheit. Sie geht aber trotzdem nicht verloren! Ich denke, man spürt zu jedem Zeitpunkt, dass man Verse liest.

Vielleicht haben diese Entscheidungen auch etwas mit der Länge des Textes zu tun – Gernhardt hat auch einige kürzere Stücke geschrieben in ungereimten trochäischen Vierhebern, da müsste man mal vorbeischauen und vergleichen. Wer die „gesammelten Gedichte“ im Schrank stehen hat (ich empfehle sie!), kann ja mal reinschauen, zum Beispiel bei:

Osterballade, Lang her, Lied der Bücher (mit Bezug auf Heines Vierheber),  Lob des Alleinseins, Abend in Fort Lauderdale

Es gibt aber noch einige mehr zu entdecken!

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