Erzählverse: Der trochäische Vierheber (6)

Die Art und Weise, wie ungereimte, gereihte trochäische Vierheber in der deutschen Dichtung gebraucht werden, speist sich aus drei verschiedenen Einflüssen. Der erste ist der Einfluss der Antike, die Übersetzung und Nachahmung der „Lieder Anakreons“; davon war hier  schon die Rede. Der zweite ist der Einfluss spanische Romanzendichtung; davon wird hier noch die Rede sein. Und der dritte ist der Einfluss der „Kalevala“, des finnischen Epos, das Elias Lönnrot in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus gesammelten mündlichen Quellen zusammengestellt hat. Der „Kalavela-Vers“ wird im Deutschen oft durch einen vierhebigen Trochäus wiedergegeben, eine Entscheidung, über die viel gestritten worden ist, die aber auch nicht besser oder schlechter ist als andere.

Klingen tut das ganze dann jedenfalls wie in dem folgenden, ganz kleinen Ausschnitt aus der „14. Rune“ (das Gesamtwerk umfasst 22795 Verse!) in der Übersetzung von Dagmar Welding (in 3. Auflage erschienen ???? bei Mellinger in Stuttgart):

„Waldwirt, du vom Tapiohofe,
du des Tapiohofes Wirtin,
und du Waldesgreis, du Graubart,
du des Waldes goldner König,
Mimerki, du Waldesmutter,
liebe Waldesgabenmutter,
in dem blauen Mantel, Alte,
rotbestrumpfte Sumpfeswirtin,
komme nun das Gold zu tauschen,
komm nun Silber einzuwechseln,
Gold hab ich von Mondesalter,
Silber von der Sonne Alter,
in dem Handgemeng‘ gewonnen,
scharfen Schlachten schwer erbeutet;
nützt sich ab im Beutel liegend,
dunkelt trüb im Zundersacke,
ist da niemand, Gold zu tauschen,
und kein Wechsler für das Silber!“
So war Lemminkäinen lustig
lange gleitend hingeeilet,
sang im Laubwald seine Strophen,
in des tiefen Urwalds Öde;
Sang geneigt des Waldes Wirtin
und geneigt des Waldes Wirt sich,
macht von sich entzückt die Mädchen,
stimmt für sich die Tapiotöchter.

Das ist als Übersetzung „abgeleitet“, die Verse bewegen sich nicht unbedingt so, wie sie es in einem „rein deutschen“ Text täten; von daher ist es nicht sinnvoll, hier genauer in die Verse hineinzuschauen. Für mich liegt der Reiz an anderer Stelle!

Wenn man sich nämlich einliest in die Kalevala, dann gewinnt man bald den Eindruck, und festigt ihn mit jedem weiteren Dutzend Verse: Wiederholung ist etwas herrliches, und der trochäische Vierheber ist ein Maß, das Wiederholungen wunderbar tragen und vermitteln kann!

Um mal die ganz großen Worte zu wählen: Hier drin steckt auch ein Stück Befreiung von dem Zwang der heutigen Sprache, möglichst viel möglichst fehlerfrei mit möglichst kleinem Aufwand aussagen zu müssen. Hier findet sich eine Möglichkeit, Dinge auszubreiten vor dem Leser, sich in Einzelheiten zu verlieren; denn der Vers trägt das alles, er hält die Aufmerksamkeit des Lesers (oder eher: des Hörers?!) fest durch seinen immer gleichen Aufbau, der aber doch jedesmal leicht anders gestaltet ist. Wiederholung und Abwandlung der Wiederholung: damit ist viel zu erreichen! Ich hänge zum Schluss noch einen kleinen Absatz aus der „6. Rune“ an, das zu verdeutlichen; und empfehle die Kalevala für lange Winterstunden. Es lohnt sich! Im nächsten Beitrag geht es dann aber wieder mit Vierhebern neuerer, deutscher Dichter weiter.

Inhaltlich geht es darum, dass jemand mit Pfeil und Bogen auf seinen Feind wartet, der irgendwann auftauchen muss:

Lange wartet er auf Väinö,
lauert lange unermüdlich,
sogar sitzend an dem Fenster,
spähend um die Speicherecke,
horchend an des Triftwegs Ausgang,
wachsam blickend übers Blachfeld,
Köcher voller Pfeil am Rücken,
unterm Arm den guten Bogen.
Spähet dann noch weiter draußen,
an dem andren Hause drüben,
an der Feuerspitze Ende,
an der Feuerlandzung Höhlung,
dicht am feur’gen Wasserfalle,
an des heil’gen Stromes Strudel.

Und der Leser wartet mit. Bis dann schließlich, „Eines schönen Tags geschah es, / Einem Morgen unter andren“,  der Gesuchte reitend in Sicht kommt …

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