Erzählformen: Die Brunnenstrophe (13)

Die in (12) vorgestellte „doppelte Brunnenstrophe“ hat eine Schwierigkeit: Wie kann sie sich gegenüber zwei einzelnen Brunnenstrophen als Einheit ausweisen?

Diese Strophe hat eine lange Geschichte: ihre Ursprünge liegen in der mittelalterlichen Heldenepik, sie wurde dann gerne als Form für Volksballaden und historische Lieder verwendet und kam schließlich auch als Kirchenliedstrophe in Gebrauch. Und im Lied kann die Strophen-Einheit durch die Musik, die Melodie erreicht werden!

Als Beispiel dafür kann „Fritzchen an den Mai“ von Christian Adolph Overbeck dienen, das Wolfgang Amadeus Mozart vertont hat unter leichter Veränderung des Textes, der mit dem Titel „Sehnsucht nach dem Frühlinge“ bei ihm so aussieht:

 

Komm, lieber Mai, und mache
die Bäume wieder grün,
und lass mir an dem Bache
die kleinen Veilchen blüh’n!
Wie möcht’ ich doch so gerne
ein Veilchen wieder seh’n!
Ach, lieber Mai, wie gerne
einmal spazieren geh’n!

Zwar Wintertage haben
wohl auch der Freuden viel;
man kann im Schnee eins traben
und treibt manch’ Abendspiel;
baut Häuserchen von Karten,
spielt Blindekuh und Pfand,
auch gibt’s wohl Schlittenfahrten
aufs liebe freie Land.

Doch wenn die Vögel singen,
und wir dann froh und flink
auf grünem Rasen springen,
das ist ein ander Ding!
Jetzt muss mein Steckenpferdchen
dort in dem Winkel steh’n,
denn draußen in dem Gärtchen
kann man vor Kot nicht geh’n.

Ach, wenn’s doch erst gelinder
und grüner draußen wär’!
Komm, lieber Mai, wir Kinder,
wir bitten gar zu sehr!
O komm und bring’ vor allem
uns viele Veilchen mit!
Bring’ auch viel Nachtigallen
und schöne Kuckucks mit!

 

Eigentlich sind es sogar fünf Strophen, aber Rudolf Schock lässt in seinem Vortrag die vierte Strophe weg (und hat auch sonst noch leichte Abweichungen, vor allem in der letzten Strophe).

Wem das zu „kinderliedrig“ ist, kann es mit einem anderen Klassiker versuchen: Bolle reiste jüngst zu Pfingsten. Wo „Bolle“, um ins Versmaß zu passen, eine doppelt besetzte Eingangssenkung ist, wie der Vortrag es ja auch umsetzt; der ältere Einsatz „Herr Bolle lenkt zu Pfingsten“ hat diese Schwierigkeit nicht …

Oder, etwas ernster, aber gleichfalls sehr bekannt: „Die Forelle“, geschrieben von Christian Friedrich Daniel Schubart, vertont von Franz Schubert.

Und immer so weiter, bis hin zu den unzähligen Kirchenliedern, mit am bekanntesten „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt, der dabei einen mittelalterlichen lateinischen Hymnus übersetzte; ein Text, den auch Johann Sebastian Bach in der Matthäus-Passion benutzt hat.

Was dann zeigt: diese „doppelte Brunnenstrophe“ ist als Liedstrophe für so gut wie jeden Inhalt geeignet. Aber auch als reine Lyrikstrophe hat sie weite Verbreitung gefunden, wovon noch zu reden sein wird!

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