Bertolt Brechts „Lehrgedichts-Fragment“
Zäsuren sind für einen Langvers wichtig, und für den Hexameter besonders; daher möchte ich die Hauptzäsuren hier noch einmal ausführlich vorstellen, und zwar am Beispiel von Brechts Versen. Die habe ich, wie sein Zitat, aus den 1981 bei Suhrkamp erschienenen „Gedichten in einem Band“, wo sie auf den angegebenen Seiten zu finden sind.
1945 war es, da fasste Brecht den erstaunlichen Plan, das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels zu versifizieren. Über seine Gründe schrieb er:
Das Manifest ist als Pamphlet selbst ein Kunstwerk; jedoch scheint es mir möglich, die propagandistische Wirkung heute, hundert Jahre später, und mit neuer, bewaffneter Autorität versehen, durch ein Aufheben des pamphletischen Charakters, zu erneuern. (Seite 1296)
Erreichen wollte Brecht dies durch ein Lehrgedicht in der Art des antiken „De rerum natura“ von Lukrez, ein Werk, das Brecht schon lange kannte und schätzte. Und da Lukrez den Hexameter verwendet hatte, griff auch Brecht zu diesem Vers. Das versifizierte Manifest sollte den Mittelteil bilden, flankiert von anderen lehrhaften Texten. Doch leider stellte Brecht dieses Lehrgedicht nie fertig – das, was entstanden ist, verspricht viel!
Jetzt aber zu den Zäsuren! Zäsuren sind Pausen, die einen Hexameter in mehrere Unterabschnitte teilen. Warum sie so entscheidend sind für den Hexameter, hat Alfred Kelletat schön beschrieben in „Zum Problem der antiken Metren im Deutschen“ (Deutschunterricht 1964):
Es bedarf einer fein bemessenen und variablen Gliederung in Abschnitte, um dem langen und starken Vers seine individuelle Bewegung zu geben – sonst klingt er wie ein unermeßliches, undifferenziertes, sich ewig wiederholendes Dahinrollen. Erst durch die Schnitte wird jeder Vers zur fasslichen Individualität, hier liegt die eigentliche Kunst des Hexameters, von ihnen hängt seine Tragfähigkeit, seine Hörbarkeit über weite Strecken des epischen Vortrags ab.
Nun gut. Wie sieht das also im wirklichen Vers aus?! Der berühmte erste Satz des „Manifests“ lautet im Original: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Dessen ersten Teil hat Brecht in folgenden Hexameter gegossen (Seite 911):
Kriege zertrümmern die Welt und im Trümmerfeld geht ein Gespenst um.
Die Ausweitung Europas auf die Welt und das Hinzunehmen des Krieges kann man dabei verstehen… Wenn man den Vers spricht, merkt man, dass hinter „Welt“ eine kurze Pause gemacht wird: eben eine Zäsur sich befindet.
Wenn man nicht in die Einzelheiten gehen will, genügt es zu sagen, dass die Haupt-Zäsur des Hexameters in der dritten oder vierten Grundeinheit liegen sollte – mit Betonung auf „in“! Nach der dritten Einheit teilt sich der Vers nie (die beiden Vershälften würden sich zu ähnlich), nach der vierten ist eine Teilung möglich, aber nicht häufig. Damit bleiben im wesentlichen vier Zäsuren über, zwei männliche (nach einer betonten Silbe) und zwei weibliche (nach einer unbetonten Silbe). Brechts Vers führt die Zäsur nach der betonten Silbe der dritten Einheit vor, die im allgemeinen Schema so aussieht:
X x (x) / X x (x) / X || x (x) / X x (x) / X x x / X x
Im wirklichen Vers kommt das ganze dann so daher:
Kriege zer- / trümmern die / Welt || und im / Trümmerfeld / geht ein Ge- / spenst um.
Die zweite Hälfte des Manifestsatzes folgt dann nach einigen weiteren Versen, auch sie füllt einen Hexameter (Seite 911):
Ewig zu bleiben gekommen: sein Name ist Kommunismus.
Diesmal ist die Zäsur durch den Doppelpunkt eindeutig gekennzeichnet. Sie liegt in der (logischerweise hier immer dreisilbigen) dritten Einheit hinter der ersten unbetonten Silbe, allgemein:
X x (x) / X x (x) / X x || x / X x (x) / X x x / X x
Und im wirklichen Brecht-Vers:
Ewig zu / bleiben ge- / kommen: || sein / Name / ist Kommu- / nismus.
Diese beiden Teilungen gibt es nun auch in der vierten Einheit! Zuerst die nach der betonten Silbe:
X x (x) / X x (x) / X x (x) / X || x (x) / X x x / X x
Zwei Verse aus dem Manifest, die so gebaut sind (Seite 920):
Nicht zum Wohnen bestimmt ist das Haus, das Tuch nicht zum Kleiden
Noch ist das Brot nur zum Essen bestimmt; Gewinn soll es tragen.
Nicht zum / Wohnen be- / stimmt ist das / Haus, || das / Tuch nicht zum / Kleiden
Noch ist das / Brot nur zum / Essen be- / stimmt; || Ge- / winn soll es / tragen.
Und als vorerst letzte Zäsur-Möglichkeit der Einschnitt nach der ersten unbetonten Silbe in der vierten Einheit, vorgeführt wieder an einem Manifest-Vers (Seite 923):
X x (x) / X x (x) / X x (x) / X x || x / X x x / X x
Stetig verwickelter wird die Maschine, der Handgriff wird leichter.
Stetig ver- / wickelter / wird die Ma- / schine, || der / Handgriff wird / leichter.
Das waren jetzt die vier wichtigsten Zäsuren. Es gibt noch andere, vor allem Nebenzäsuren, die den Vers zusätzlich zu einer dieser vier unterteilen; aber davon ein anderes Mal!
Brechts Hexameter sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Kein Wunder, das Manifest ist ja auch nie fertig geworden, und es steht manch angefangenes neben schon fertigem. Die „apokalyptischen Reiter“ (Seite 904) aber aus dem „Rahmenprogramm“ des Manifests sind ein fertiges, starkes Stück Hexameter-Dichtung! Darin wollen die über die Welt gekommenen Reiter ihre Pferde saufen lassen, die aber wollen nicht aus dem mit Leichen verseuchten Fluss trinken. In dem Moment
Winkte ein Weiblein ihnen und führte sie schwankenden Ganges
Ob von Feuer verwirrt, ob schwach in den Knien von verjährtem
Hunger, schwankenden Ganges, sag ich, führte sie, sag ich
Zwischen zerschossenen Hütten des einstigen Dorfes zu ihrer
Eignen zerschossenen Hütte. Schweigend wies sie den Brunnen.
Winzig stand sie im wechselnden Schein des geröteten Himmels
Saufen sah sie die Gäule das frische und reinliche Wasser.
Erst, als die Blutigen wieder im Sattel, tat sie den Mund auf:
„Vorwärts!“ sagte sie laut mit des Alters dünnerer Stimme
„Vorwärts!“ sagte sie drängend. „Reitet weiter, ihr Lieben!“
Liest sich eigentlich sehr gut… Wenn man auf die Zäsuren achtet, merkt man allerdings, dass Brecht oft, gegen die Regel, den Einschnitt zwischen die Grundeinheiten legt. Im letzten Vers fällt es besonders auf:
„Vorwärts!“ / sagte sie / drängend. || „Reitet / weiter, ihr / Lieben!“
Die Zäsur teilt den Vers in zwei genau gleiche Halbverse auf. Oder besser: Sie zerhackt ihn, denn im Ergebnis entstehen ja zwei unabhängige, kürzere Verse, die nur zufällig in eine Zeile geraten sind. Herr Brecht, da untergraben sie die Fundamente des Hexameters … „Eignen zerschossenen Hütte. Schweigend wies sie den Brunnen.“ ist der gleiche Fall, aber hier:
Erst, als die / Blutigen / wieder im / Sattel, || tat sie den / Mund auf:
liegt der Einschnitt vor der fünften Einheit, und an dieser Stelle ist das ist nach alter Sitte ja möglich.
Ich halte es insgesamt aber eher mit den alten Meistern. Wie schrieb Emil Staiger so schön in seiner „Kunst der Interpreatation“, zu „Goethes antiken Maßen“ (Seite 119)?
Die regelrechte Zäsur teilt den Hexameter zwar auf, vermeidet aber die peinliche Symmetrie und lässt uns so um den toten Punkt in der Mitte hin- und herüberpendeln, wie es dem klassischen Wesen entspricht, das einerseits zwar ein klares, über allem waltendes Maß anstrebt, doch andererseits auch den Zufall des Lebendigen nicht entbehren mag.