Erzählverse: Der Blankvers (90)

Anette von Droste Hülshoffs „Des Arztes Tod“ beginnt mit einer eindringlichen Beschreibung:

 

Im linden Luftzug schwimmt mit irrem Schein
Des Nachtlichts Fieberflamme; und kein Laut
Verbirgt des Röchelns leises Nahn dem Ohr,
Das angstvoll ob dem bleichen Antlitz lauscht.
Still liegt der alte Berthold, tief gesenkt
Die heiße Wimper, und ein wirrer Schlummer
Hält ihm die halberloschnen Sinne fest.

 

Bald danach wendet sich der Sterbende noch einmal an seine beiden Söhne, einer schon erwachsen, einer noch jung:

 

Ihr Kinder, lasst mich reden, und gedenke
Nicht deiner Kunst, mein Sohn! Du weißt es nicht
Und keiner, dem nicht also ist geschehn,
Wie furchtbar in dem schwirrenden Gehirn
Der schwindenden Besinnung letzte Kraft
Sich abquält um des Wortes Erleichterung,
Wie siedend der Gedanken wirrer Schwarm
Bald, nur in dumpfer Ahnung, Namenloses
Der kämpfenden Erinnerung versagend,
Bald sonst Unwicht’ges immer riesenhafter
Und immer schwerer in die Seele senkend
Vergebens die entflohne Stunde sucht.

 

Dass sich die Sprache „abquält“, lässt sich nicht wirklich sagen: Die Sätze sind wohlgefügt und keineswegs schlicht, die Verse sind gut gebaute Blankverse, die sich der erlaubten Freiheiten nur in sehr geringem Maß bedienen.

Und doch: Da ist etwas gequältes, das die Lage des Sprechenden sehr gut verdeutlicht?!

Solche Sterbeszenen überzeugend zu schreiben, ist sicher keine leichte Aufgabe; ein anderes Beispiel in Blankversen bietet das gleichfalls schon beim Verserzähler vorgestellte Geh nicht hinein von Theodor Storm.

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