6. Psalm (Anfang)
Strafe mich nicht, o Herr! in deinem erschrecklichen Zorne,
Züchtige mich doch nicht! Vater, aus Eifer und Grimm:
Sei mir gnädig, o Herr! denn ich bin schwach und erschrocken:
Heile mich, himmlischer Arzt! meine Gebeine sind schwach.
Nun sind die Psalmen ja nicht in Distichen geschrieben – was geht also hier vor? Nun: Johann Christoph Gottsched gebührt der Verdienst, sich als einer der ersten um praktikable deutsche Hexameter und Distichen bemüht zu haben. Dafür hat er in seinem „Versuch einer critischen Dichtkunst“ 1730 unter anderem auch den sechsten Psalm in Distichen übertragen. Bleibt natürlich die Frage, welches Maß an Eigenständigkeit ein solcher Text durch die Versifikation gewinnt … In einer hier gerade herumliegenden (Luther-)Bibel geht der Anfang des Psalms so:
Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm! Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken.
– Jeder mache sich sein eigenes Bild … Gottsched selbst schrieb zu seinem Versuch:
Meines Erachtens fehlt nichts mehr, als dass einmal ein glücklicher Kopf, dem es weder an Gelehrsamkeit, noch an Witz, noch an Stärke in seiner Sprache fehlet, auf die Gedanken gerät, eine solche Art von Gedichten zu schreiben; und sie mit allen Schönheiten auszuschmücken, deren sonst eine poetische Schrift, außer den Reimen, fähig ist.
Uns so kam es – keine zwanzig Jahre später schrieb Klopstock seinen „Messias“, und danach waren die nachgebildeten antiken Versmaße nicht mehr wegzudenken aus der deutschen Dichtung. Was Gottsched dann auch wieder nicht recht war; aber das ist eine andere Geschichte.