Anette von Droste-Hülshoffs „Das Bild“ ist ein langes Gedicht, aber die ersten drei Strophen genügen sicher, um einen Eindruck zu bekommen:
Sie stehn vor deinem Bild und schauen
In dein verschleiert Augenlicht,
Sie prüfen Lippe, Kinn und Brauen
Und sagen dann: Du seist es nicht;
Zu klar die Stirn, zu voll die Wange,
Zu üppig in der Locken Hange,
Ein lieblich fremdes Angesicht.
O wüssten sie es, wie ein treues
Gemüt die kleinsten Züge hegt,
Ein Zucken nur, ein flüchtig scheues,
Als Kleinod in die Seele legt;
Wie nur ein Wort, mit gleichem Klange
Gehaucht, dem Feinde selbst das bange,
Bewegte Herz entgegen trägt –
Sie würden besser mich begreifen,
Seh’n deiner Locken dunkeln Hag
Sie mich mit leisem Finger streifen,
Als lüft‘ ich sie dem jungen Tag;
Den Flor mich breiten dicht und dichter,
Dass deiner Augen zarte Lichter
Kein Sonnenstaub verletzen mag.
Ein Gedicht, dass denselben Strophenbau nutzt wie das gestern vorgestellte Gedicht von Friedrich Schlegel: Sieben Zeilen im Reimschema ababccb – wieder die Kanzonenform! Diesmal sind die Verse aber keine trochäischen Dreiheber, sondern iambische Vierheber, was sicher auch zum Eindruck größerer Gelassenheit beiträgt. Und ich denke, da steckt auch größere dichterische Befähigung dahinter; denn „Das Bild“ ist schon ein guter Text, keine Frage!