Erzählformen: Das Distichon (71)

Epigramme wissen voneinander. Das überrascht nicht wirklich: Soooo viele kluge Dinge gibt es dann auch nicht zu sagen, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, man wiederholt etwas schon gesagtes. Oder, noch wahrscheinlicher: Man ist über die Epigramme der toten und lebenden Dichter im Bilde und nimmt so aus einem Vorrat von Gedanken, um für einen davon die ganz eigene Form zu finden.

 

Lebensregel

Frei in unendlicher Kraft umfasse der Wille das Höchste,
Doch nach dem Nächsten nur greife bedächtig die Tat.

 

– Sagt Franz Grillparzer. Auch die um die Frage nach dem „Höchsten“ geht es bei Emanuel Geibel, in seinem „Wintertagebuch“:

 

Immer behalte getreu vor Augen das Höchste, doch heute
Strebe nach dem, was heut‘ du zu erreichen vermagst.

 

Ähnlichkeiten sind vorhanden … Das bessere Distichon aber hat Grillparzer geschrieben: Die Möglichkeiten der Entgegensetzung, die das Verspaar aus Hexa- und Pentameter bietet, sind voll genutzt – „das Höchste – das Nächste“, „der Wille – die Tat“, „umfasse – greife“, „frei – bedächtig“, „nur – unendlich“; dagegen bleibt Geibels Distichon ein wenig blass, die Verkürzung des „heut“ nur aus Metrumsgründen und das „du“ auf einer ihm nicht ganz angemessenen Hebungsstelle verstärken diesen Eindruck!

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